Der WELT-Artikel „Wadephuls Fehlleistung: Mit türkischen Gastarbeitern hat das deutsche Wirtschaftswunder nichts zu tun“ vom 20.10.2025 ist ein polemischer Beitrag von Sven-Felix Kellerhoff, der auf eine Äußerung von Außenminister Johann Wadephul reagiert. Wadephul hatte in einem Interview mit der türkischen „Hürriyet“ gesagt, dass türkische Arbeitskräfte maßgeblich zum deutschen Wirtschaftswunder beigetragen und Deutschland „mit aufgebaut“ hätten.
Kellerhoff widerspricht dieser Darstellung vehement und bezeichnet sie als „historisch falsch“. Seine Argumentation stützt sich auf eine zeitliche Abgrenzung: Das Wirtschaftswunder habe bereits Mitte der 1950er Jahre seinen Höhepunkt erreicht – also lange bevor türkische Arbeitskräfte infolge des Anwerbeabkommens von 1961 in größerer Zahl nach Deutschland kamen. Türkische Gastarbeiter hätten daher, so die These des Artikels, keinen Anteil am eigentlichen Wirtschaftswunder, sondern seien erst in einer späteren Phase der Wohlstands-Sicherung relevant geworden.
Damit wird der Beitrag zu einer Geschichtsumdeutung, die eine nationalistisch verengte Erfolgserzählung bedient. Der Text erhebt den Wiederaufbau zum Resultat einer ausschließlich „deutschen Leistung“ und deutet die Rolle der Gastarbeiter als nachgeordnet um – was zugleich ein stilles Echo auf aktuelle politische Rhetorik über Migration, insbesondere von Kanzler Friedrich Merz und Jens Spahn, darstellt.
Geschichtliche und moralische Verantwortung
Diese Argumentation ist historisch und ökonomisch nicht haltbar. Das sogenannte Wirtschaftswunder war kein autarkes deutsches Phänomen, sondern Teil einer durch den Marshallplan geförderten Rekonstruktionsphase Westdeutschlands. Zwischen 1948 und 1952 erhielt die Bundesrepublik rund 1,4 Milliarden US-Dollar aus amerikanischen Wiederaufbauhilfen – Mittel, die die Währungsreform, industrielle Investitionen und Exporte ermöglichten. Ohne diese massive externe Unterstützung wäre die schnelle Stabilisierung der Nachkriegswirtschaft undenkbar gewesen.
Ebenso verkennt Kellerhoff doppelt die strukturelle Bedeutung der Arbeitsmigration: Erstens war der extreme Arbeitskräftebedarf in den Jahren nach 1960 eine direkte Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1950er Jahre, was das deutsch-türkische Anwerbeabkommen (1961) auslöste. Zweitens trugen die rund 870.000 türkischen Gastarbeiter der 1960er und 1970er Jahre maßgeblich zur Stabilität des Nachkriegsmodells bei – durch ihre Arbeit in der Schwerindustrie, im Bergbau, in der Automobilproduktion und auf Großbaustellen. Ihre Leistungen sicherten die Kontinuität des Wachstums, das Kellerhoff fälschlich als abgeschlossenen Prozess behandelt.

Das „Stadtbild“-Narrativ
Diese historische Relativierung fügt sich nahtlos in die gegenwärtige politische Rhetorik von Kanzler Friedrich Merz und CDU-Fraktionschef Jens Spahn ein. Merz bezeichnete in einem Interview das heutige „Stadtbild“ deutscher Großstädte – mit Menschen, die „nicht deutsch aussehen“ – als „Problem“, und bekräftigte diese Formulierung trotz breiter Kritik mehrfach. Spahn sekundierte, indem er insbesondere „junge Männer mit arabisch-muslimischem Hintergrund“ pauschal als Ursache sozialer Probleme nannte.
In dieser Sprache zeigt sich eine ideologische Kontinuität: Migranten werden optisch und kulturell als Abweichung oder Belastung definiert. Historische Anerkennung weicht nationaler Purifizierung. Der WELT-Artikel ist in diesem Sinn kein isolierter Beitrag zur Geschichtsforschung, sondern eine publizistische Frontlinie im Kampf um die Deutungsmacht über Zugehörigkeit – wer Teil des deutschen Erfolgs sein darf und wer nicht.
Die Enkel des Wirtschaftswunders
Dass Merz und Spahn ausgerechnet die Nachkommen jener Gastarbeiter rhetorisch aus dem „deutschen Stadtbild“ ausschließen, offenbart die Tragweite dieser Erzählung. Die sogenannten „Gastarbeiterkinder“ – heute Teil der dritten oder vierten Generation – sind Träger des Bildungssystems, der Wirtschaft und Kultur; sie verkörpern den gesellschaftlichen Wandel, den Deutschland seit den 1960er Jahren durchlaufen hat. Ihre Eltern und Großeltern waren keine Randfiguren des Wirtschaftswunders, sondern dessen menschliches Rückgrat in der Nachkriegszeit.
Gegen die Verengung historischer Erinnerung
Wadephuls diplomatisch ungeschickte, aber letztlich zutreffende Würdigung der Gastarbeiter wurde vom WELT-Beitrag aus einem geschichtspolitischen Blickwinkel entwertet, der bewusst suggeriert: Wohlstand sei eine rein nationale, ethnisch homogene Leistung gewesen. In Wahrheit war das Gegenteil der Fall: Ohne Marshallplan, internationale Kooperation und migrantische Arbeitskraft wäre der Wiederaufbau nicht denkbar gewesen.
Das heutige Wiedererstarken solcher Ausgrenzungsrhetorik – ob in wissenschaftlich verengten Artikeln oder politischen Debatten über das „Stadtbild“ – ist Ausdruck einer gefährlichen Erinnerungspolitik. Sie will das komplexe, globale Fundament des deutschen Erfolgsnarrativs verschleiern und die Diversität derer, die dieses Land aufgebaut haben, marginalisieren. Dabei gilt längst: Die Nachfahren der Gastarbeiter sind das Stadtbild Deutschlands – und ein sichtbarer Beweis seines langfristigen wirtschaftlichen Erfolgs und kulturellen Wandels.