Der 18-jährige Israeli Tal Mitnick verweigert den Kriegsdienst in der israelischen Armee, um nicht am Genozid in Gaza teilzunehmen. Fünf mal wurde er dafür in Israel inhaftiert. Kein einziges deutsches Medium hat sich für seine mutige Position interessiert. Ich habe ihn in der Sonnenallee in Berlin getroffen. Im Interview erzählt Tal Mitnick von seinem Traum von Frieden und Gerechtigkeit für Palästinenser. Aber auch, warum er Sanktionen gegen Israel fordert und auf ein Ende der israelischen Vorherrschaft hofft. Deutschland kommt dabei nicht gut weg.
Tarek: Du warst für insgesamt 185 Tage im Gefängnis. Du hättest dich, wie es viele andere tun, auf eine medizinische oder psychische Erkrankung berufen können, um dem Dienst zu entgehen, aber du hast dich dagegen entschieden. Warum?
Tal: Viele Menschen berufen sich auf psychische oder medizinische Gründe, um sich dem Dienst zu entziehen, aber ich wollte zeigen, dass die Weigerung, sich an dem zu beteiligen, was ich als Völkermord betrachte, keine psychische Behinderung oder Krankheit ist. Ich glaube, dass jeder, der aus irgendeinem Grund nicht in die israelische Armee eintritt, im Recht ist, aber ich wollte deutlich machen, dass Kriegsdienstverweigerung eine legitime Haltung ist und nicht nur eine Ausrede.
Tarek: Du bist nach Deutschland gereist und hast an einer Veranstaltung von Israelis for Peace teilgenommen. Gab es von deutschen Politikern oder Medien, irgendein Interesse?
Tal: Nein. Vielleicht bin ich aber auch einfach nicht wichtig genug. Der internationale Mainstream, der Israel unterstützt, träumt von einem homogenen Israel, in dem alle das Gleiche unterstützen. Man vermeidet es, Stimmen wie meine zu zeigen, die dieses Narrativ in Frage stellen und echte Gerechtigkeit und Frieden fordern. Niemand aus Politik oder Medien in Deutschland kam, um mit mir zu sprechen. Dafür aber die Friedensbewegung. Die Israelis, die ich hier getroffen habe, sind wegen der israelischen Politik gegenüber Palästinensern nach Berlin oder in andere europäische Länder gezogen. Sie unterstützen die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und sind gegen die Aktionen des Militärs und gegen die jüdische Vorherrschaft. Sie verstehen also meinen Standpunkt sehr gut.
Tarek: Wären deutsche Medien auf Dich zugekommen und hätten Politikerinnen und Politiker sich gemeldet, was hättest Du ihnen gesagt?
Tal: Wenn die deutsche Regierung wirklich aus ihrer Vergangenheit gelernt hat und wirklich gegen Völkermord ist, sollte sie aufhören, die israelische Regierung zu bewaffnen, die in Gaza Völkermord begeht. Wenn sie wirklich zu ihren Prinzipien steht, sollte sie die Waffenlieferungen einstellen, Israel zu einem Waffenstillstand drängen und die jüdische Vorherrschaft zwischen dem Fluss und dem Meer („from the river to the sea“) auflösen. Darf ich „from the river to the sea“ aktuell hier sagen?
Tarek: Wenn Du damit Israels Vorherrschaft meinst, ist das legal. Geht es um Palästinenser, wird es kniffliger. Einer von vielen Doppelstandards.
Tal: Deshalb sage ich immer, die israelische Gesellschaft muss sich wandeln, und wir wollen Teil dieses Wandels sein. Wir wollen diesen Wandel herbeiführen. Wir glauben, dass es keine Lösung geben wird, bis sowohl Israelis als auch Palästinenser erkennen, dass keiner von beiden irgendwohin gehen wird, und dass wir koexistieren müssen. Die israelische Gesellschaft muss einen drastischen Wandel durchmachen, und wir wollen Teil dieses Wandels sein. Der Frieden, den wir anstreben, ist nicht passiv, wie es oft in der israelischen Gesellschaft gesehen wird, wo Frieden als Kapitulation empfunden wird. Die wahre Sehnsucht nach Frieden ist aktiv. Wir müssen ihn aktiv anstreben und durch gewaltlosen Widerstand für Gerechtigkeit sorgen, sei es durch Aktivismus im Westjordanland, durch schützende Präsenz in palästinensischen Gemeinden, die vom israelischen Militär deportiert werden, oder durch Druck auf die Außenwelt, Palästina anzuerkennen, Israels Besatzung palästinensischer Gebiete zu sanktionieren und eine dauerhafte Lösung zu schaffen, die sowohl Israelis als auch Palästinensern Frieden und Wohlstand bringt. Was wir wollen, ist nicht nur für das palästinensische Volk, denn es wird auch für uns Israelis gut sein.
Tarek: Siehst du deine Zukunft weiter in Israel?
Tal: Das ist eine schwierige Frage, denn Israel ist meine Heimat, und ich kenne keinen anderen Ort. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sich dort bald etwas ändert. Ich glaube, dass internationaler Druck notwendig ist, und ich möchte Teil dieses Wandels sein. Die israelische Linke und israelische Aktivisten werden den Wandel vielleicht nicht herbeiführen, aber er muss von irgendwoher kommen, und wir müssen bereit sein, ein neues System zu schaffen, das sich für Gerechtigkeit und das Recht auf Rückkehr einsetzt.
Tarek: Wie kam es dazu, dass Du dieses politische Bewusstsein entwickelt hast?
Tal: Ich bin in einer sehr politischen Familie aufgewachsen. Ich war nicht antizionistisch oder so links wie heute, aber meine Eltern haben mich ermutigt, kritisch zu denken und nicht jede Information als Tatsache hinzunehmen. Mein Vater war Journalist, also war er bei allen Dingen dabei, die passierten. Gegen Ende der Middle School oder zu Beginn der High School begann ich, über Organisationen wie Breaking the Silence zu lesen, eine Organisation von Soldaten, die über ihren Militärdienst sprechen. Ich war völlig entsetzt über das, was ich las, und wusste, dass ich da nicht mitmachen konnte. In der High School wurde Informatik immer als eine Möglichkeit vermarktet, einen guten Job bei der Armee zu bekommen und danach eine gute Position. Sie nutzten unsere persönlichen Interessen, um uns zum Eintritt in die Armee zu überreden. Bei Menschen aus niedrigeren sozioökonomischen Verhältnissen setzte man auf Nationalismus und forderte sie auf, ihrem Land zu helfen, sich zu melden und den Feind zu bekämpfen. Für uns war es ganz logisch: ‚Geh zur Armee und such‘ dir danach einen gut bezahlten Job.‘ Nichts anderes.
Tarek: Kennst du viele Menschen, die das gleiche Problem haben und nicht zum israelischen Militär wollen?
Tal: Ich habe nicht viele getroffen. Die meisten, die im Gefängnis saßen, waren entweder nicht zum Militärdienst erschienen oder mittendrin desertiert. Es gibt eine sehr kleine Zahl von Verweigerern aus Gewissensgründen. Ich habe einen Haredi (Ultra-Orthodoxen) getroffen, der aus religiösen Gründen gegen die Einberufung war, und einen Drusen. Viele Drusen sind immer noch sehr loyal gegenüber Israel und sehen sich als Teil der israelischen Gesellschaft, aber es gibt auch Leute innerhalb der drusischen Gemeinschaft, die sich als Palästinenser sehen. Dieser Mann war einer von ihnen und wurde zwangsverpflichtet, was zu seiner Inhaftierung führte. Aber es gab nur sehr wenige wie ihn.
Tarek: Erzähl uns von dem Moment, als Du einberufen wurdest.
Tal: Der Prozess ist schrittweise. Im Alter von 16 Jahren hat man den ersten Kontakt mit der Armee, wo man auf sein Profil, seine Bildung und andere Eigenschaften geprüft wird. Als ich meinen Einberufungsbescheid erhielt, war ich mir noch nicht sicher, was ich wollte, aber als das erste Treffen mit der Armee näher rückte, wusste ich, dass ich nichts tun konnte – kein Kampf, keine Geheimdienstarbeit, nichts. Das habe ich ihnen gesagt, und sie hatten nicht viel zu sagen. Ich hatte kein weiteres Treffen mit ihnen bis zu meinem Einberufungstag, an dem ich den Dienst verweigerte.
Tarek: Was genau passiert, wenn man verweigert?
Tal: Der erste Schritt ist die Verhaftung und die Einweisung in ein Gefängnis. Dann wird man vor einen Armeerichter oder einen hochrangigen Kommandanten gestellt, der einen zu einer Gefängnisstrafe verurteilen kann. Sie gaben mir den ranghöchsten Befehlshaber, den sie finden konnten, und er verurteilte mich zu 30 Tagen Gefängnis, was meiner Meinung nach in den letzten Jahren für Kriegsdienstverweigerer beispiellos ist. Normalerweise versuchen sie zuerst, dich mit einer kürzeren Strafe zu überreden, um dir Angst zu machen. Aber sie haben mich sofort zu der Höchststrafe von 30 Tagen verurteilt.
Tarek: Wie ist deren Haltung Dir gegenüber? Sehen sie Dich als Verräter, oder gibt es auch welche, die Deinen Standpunkt verstehen?
Tal: Die Armee-Elite ist sehr kalkuliert in dieser Frage. Sie wollen nicht zu viel Aufsehen erregen, also gehen sie es ruhig an. Sie haben mich ohne viel Trubel zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt und versucht, respektvoll zu erscheinen. Aber mir war ihr Respekt egal, wenn sie mich ins Gefängnis schickten.
Tarek: In der israelischen Friedensbewegung bist Du eine Berühmtheit. Gibt es auch außerhalb dieser Antikriegsdemonstranten in Israel Beachtung für Deine Geschichte?
Tal: Es wurde viel über meine Geschichte gesprochen, als ich das erste Mal ins Gefängnis kam, vor allem, weil ich der erste war, der gegen den Krieg protestierte. Und das zu einer Zeit, als die Polizei Proteste überhaupt nicht zuließ. Universitätsprofessoren und Studenten wurden angegriffen und gefeuert, weil sie im Internet etwas gesagt hatten. Ich war mir nicht sicher, was passieren würde, wenn ich mich weigerte, ob es im Gefängnis oder außerhalb Gewalt geben würde, weil meine Geschichte so viel Aufsehen erregte. Es war beängstigend, und ich bekam nicht viel Unterstützung von der israelischen Gesellschaft im Allgemeinen. Aber als ich nach 30 Tagen zum ersten Mal aus dem Gefängnis kam und nach Tel Aviv zurückkehrte, war ich überrascht, dass die Menschen mich wegen meiner Geschichte anerkannten. Die einzige Beachtung, die ich erhielt, war positiver Art: Die Leute sagten mir, dass ich eine gute Entscheidung getroffen habe und stolz sein sollte. Das hat mich wirklich glücklich gemacht, weil ich sah, dass es Unterstützer aus der Ferne gab, auch wenn sie nicht unbedingt Aktivisten waren oder sich öffentlich äußerten.
Tarek: Gab es Gewalt oder Verfolgung nach Deiner Bekanntheit?
Tal: Überraschenderweise kamen die Drohungen nicht von Radikalen, sondern aus der nationalistischen Mitte. Meine Adresse und Telefonnummer wurden im Internet veröffentlicht, aber es war nicht meine richtige Adresse. Ich habe viele Drohbriefe erhalten, und meine Mutter auch. Die meisten dieser Drohungen kamen aus dem Internet; normalerweise haben die Leute Angst, sich öffentlich mit einem auseinanderzusetzen. Aber einmal machte jemand in Tel Aviv den Kahane-Gruß vor mir. Damals wusste ich nicht, was das war, aber es war aggressiv, ähnlich wie ein Nazi-Gruß. (Anmerkung: Kahanisten sind eine faschistische israelische Bewegung, aus der auch der israelische Minister Ben-Gvir hervorgegangen ist)
Tarek: Es gibt viele Berichte über Folter und Gewalt in israelischen Gefängnissen gegen Palästinenser. Hast Du etwas davon zu spüren bekommen oder werden diese Methoden Deiner Erfahrung nach nur gegen Palästinenser angewendet?
Tal: Das Gefängnis, in dem ich war, war ein Militärgefängnis, in dem israelische Soldaten und Menschen, die militärische Vergehen begangen hatten, inhaftiert waren. Das Hauptziel war es, diese Leute wieder in den Dienst zu bekommen. Es war nicht einfach, aber es war nicht annähernd so schlimm wie das, was palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen erleben. Wir bekamen regelmäßige Mahlzeiten, es war relativ sauber, und die Grundbedürfnisse wurden befriedigt. Aber es war immer noch ein Gefängnis, mit all den Einschränkungen und der Isolation, die damit einhergehen. Durch diese Erfahrung lernte ich die unteren sozioökonomischen Schichten der israelischen Gesellschaft kennen, darunter viele Minderheiten. Die ersten Palästinenser und Drusen, die ich getroffen habe, waren im Militärgefängnis, nicht in meinem Alltag.
Tarek: Es gibt viele Debatten über mögliche Lösungen, wie die Zwei-Staaten-Lösung oder eine Ein-Staaten-Lösung mit gleichen Rechten für alle. Ich weiß, das ist eine wirklich große Frage.
Tal: Der erste Schritt muss die Schaffung eines autonomen palästinensischen Staates sein. Das ist nicht die endgültige Lösung, aber es ist notwendig, um voranzukommen. Wir müssen darauf hinarbeiten, die jüdische Vorherrschaft in Israel zu beseitigen, aber das wird Zeit brauchen. Diplomatischer Druck und Aktivismus sind für diesen Prozess unerlässlich. Haftbefehle gegen Netanjahu und andere, ein Embargo gegen Israel und der Stopp von Waffenverkäufen sind notwendige Schritte. Diese Maßnahmen würden zeigen, dass sich die internationale Gemeinschaft tatsächlich kümmert und könnten einen Wandel bewirken.
Tarek: Würden diese Maßnahmen die öffentliche Meinung in Israel verändern?
Tal: Vielen Israelis sind die internationalen Beziehungen und der Wohlstand wichtig. Wenn sie vor die Wahl gestellt werden, entweder diese Beziehungen aufrechtzuerhalten oder sich unter einer rechtsextremen Regierung zu isolieren, glaube ich, dass viele Ersteres vorziehen würden, was zu mehr Unterstützung für den Frieden führen könnte. Die Israelis haben nicht das Privileg, mit dem Protest gegen diesen Völkermord aufzuhören. Wir müssen weitermachen, bis wir eine bessere Zukunft sehen.
Tarek: Für deutsche Juden ist es schwierig, Stellung zu beziehen, weil deutsche Medien und die Politik Jüdischsein meist mit der Unterstützung Israels gleichsetzen. Viele deutsche Juden berichten vom Gefühl, dass ihnen eine Plattform fehlt, um sich zu äußern. Auch Du passt nicht in dieses Bild, das in Deutschland vorherrscht.
Tal: Ich denke, dass es in Deutschland immer noch viele Schuldgefühle wegen des Holocausts gibt, und diese Schuldgefühle schlagen sich oft in unkritischer Unterstützung für Israel nieder. Dadurch entsteht eine Situation, in der jede Kritik an Israel als Kritik an den Juden gesehen wird, was an sich schon eine Form von Antisemitismus ist. Durch die Gleichsetzung aller Juden mit dem Staat Israel werden Juden in eine Schublade gesteckt und ihnen vorgeschrieben, was sie zu denken und zu glauben haben. Historisch gesehen sind Juden starke Verfechter der Menschenrechte gewesen und haben oft auf der Seite der Unterdrückten gestanden. Dieses Erbe sollte fortgesetzt werden, und es ist wichtig, dass Juden, ob in Deutschland oder anderswo, sich frei fühlen, ihre Ansichten über Israel zu äußern, ohne Angst vor Gegenreaktionen oder als Verräter ihres Glaubens oder Volkes abgestempelt zu werden.
Die Unterstützung von Menschenrechten, einschließlich der Rechte der Palästinenser, negiert nicht die jüdische Identität oder Geschichte. Sie steht im Einklang mit einer umfassenderen Verpflichtung zur Gerechtigkeit. Deutsche Juden sollten sich an diesen Diskussionen beteiligen dürfen, ohne in eine Schublade gesteckt zu werden oder sich unsicher zu fühlen. Sie haben ein Recht darauf, ihren Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit zu äußern, ohne mit den Aktionen der israelischen Regierung in einen Topf geworfen zu werden. Man schützt Juden nicht damit, sie mit Israel gleichzusetzen. Wir überleben nicht nur dann, wenn dieser Staat in dieser Form vorherrscht. Auch wenn uns ununterbrochen die Angst vermittelt wird, nur Israel könne uns schützen.
Tarek: Hältst Du es für realistisch, die Art und Weise, wie der Staat Israel agiert, von Israel heraus zu ändern, oder muss der Wandel durch internationalen Druck herbeigeführt werden?
Tal: Es wird sowohl interner als auch internationaler Druck nötig sein. Ich traue dem Obersten Gerichtshof Israels oder anderen staatlichen Strukturen nicht zu, dass sie sich wirklich allein für Gerechtigkeit einsetzen. Es gab kleine Siege innerhalb des israelischen Systems, vor allem in Fällen, in denen es viel Medienaufmerksamkeit und internationalen Druck gab. Im Fall von Sheikh Jarrah, der weltweite Aufmerksamkeit erregte, gab es zum Beispiel einige Interventionen. Aber das sind seltene und oft oberflächliche Siege.
Langfristig muss der interne Druck durch bedeutende internationale Maßnahmen unterstützt werden. Andernfalls kann die israelische Regierung weiterhin ungestraft handeln. Die Rolle von Aktivisten und Menschenrechtsanwälten ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, die Grundlagen für einen breiteren Wandel zu schaffen. Es geht darum, die Infrastruktur für Gerechtigkeit aufzubauen, damit, wenn sich eine Gelegenheit bietet, die richtigen Strukturen und Erzählungen vorhanden sind, um einen echten Wandel zu ermöglichen.
Alles muss zusammenwirken. Ich habe einen Freund, der Menschenrechtsanwalt ist und seit Jahrzehnten Palästinenser vertritt. Er ist der Meinung, dass unsere Bemühungen zwar nicht sofort einen Wandel herbeiführen, dass es aber unsere Aufgabe ist, den Rahmen und die Vermittler für einen Wandel zu schaffen, wenn er denn kommt. Wenn das System schließlich zusammenbricht oder umkippt, müssen wir bereit sein, mit Alternativen einzugreifen, die Gerechtigkeit und Gleichheit fördern. Es geht darum, auf den Moment vorbereitet zu sein, in dem es soweit ist, damit wir die herabfallenden Teile auffangen und etwas Besseres daraus machen können. Diese Art von Vision erfordert viel Geduld und Ausdauer, denn es geht nicht um sofortige Ergebnisse. Es geht um langfristige Veränderungen.
Tarek: Du hast erwähnt, dass Israel auf einem Narrativ des Misstrauens und der Angst vor der Vernichtung aufgebaut ist. Wie stark ist der Glaube an dieses Narrativ heute?
Tal: Dieses Narrativ ist immer noch sehr stark. Die Vorstellung, dass es ohne einen jüdischen Vormachtstaat einen weiteren Holocaust geben wird, ist tief verwurzelt. Selbst wenn es Beweise gibt, die dem widersprechen – wie etwa Bündnisse mit arabischen Nachbarstaaten bleibt die Angst bestehen. Der Staat wurde auf der Idee des Misstrauens gegründet, und diese Grundlage ist auch heute noch vorhanden.
Tarek: Siehst Du einen Wandel bezüglich dieses Glaubens, insbesondere bei den jüngeren Generationen?
Tal: Es gibt einen gewissen Wandel, aber er vollzieht sich nur langsam und wird oft von der vorherrschenden Erzählung überschattet. Jüngere Generationen, vor allem diejenigen, die internationale Perspektiven kennen oder sich aktiv engagieren, stellen diese Überzeugungen vielleicht mehr in Frage. Die Mainstream-Medien und das Bildungssystem verstärken jedoch die Angst und die Vorstellung, dass Israel ein militarisierter Staat der jüdischen Vorherrschaft bleiben muss, um zu überleben. Ich möchte nur betonen, dass wir als Israelis und als Weltbürger nicht das Privileg haben, aufzuhören, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Die Situation ist katastrophal, und sie erfordert anhaltende Anstrengungen. Wir müssen weiter Druck machen, weiter protestieren und uns weiter für eine bessere Zukunft einsetzen, sowohl für Israelis als auch für Palästinenser. Der Wandel wird nicht über Nacht kommen, aber mit Beharrlichkeit und Solidarität wird er kommen, davon bin ich überzeugt.