Hassan Nasrallah ist tot. Hisbollah hat das bestätigt. Was bedeutet Israels gezielte Ermordung des Hisbollah-Chefs? Chaos. So ganz genau weiß niemand, was nun eintreten kann. Israel hat durch mehrere Schläge, z.B. das Pager-Attentat, weite Teile der Hisbollah geschwächt. Die gesamte militärische Führungsebene sei mittlerweile getötet, so Israels Behauptung. Das heißt auch: Es ist völlig unklar, wer eine Waffenruhe aushandeln kann. Die will Israel offenbar auch nicht. Direkt nach der Verkündung des Tods Nasrallahs sagte Israels Militärsprecher: „Wir sind bereit für eine größere Eskalation.“ Nasrallah war der wahrscheinlich mächtigstete Mann im Libanon. Seine gezielte Ermordung stellt eine extreme Eskalation dar, vor der die internationale Staatengemeinschaft gerade erst bei der UN gewarnt hat. Gehen wir die Hintergründe durch.
Wie ist es so weit gekommen? Seit dem 8. Oktober beschießt die Hisbollah Ziele in Israel, um nach eigener Erklärung Gaza zu entlasten und Israels Militär unter Druck zu setzen, den Krieg gegen Gaza zu beenden. Der gegenseitige Beschuss geht aber größtenteils von Israel aus, nämlich 81 % aller Angriffe (ACLED). Auch für 95 % der Toten im libanesisch-israelischen Grenzgebiet ist Israel verantwortlich. Israels Regierung hätte gerne eine Eskalation im Libanon, um von Gaza abzulenken. Die Netanyahu-Regierung will das militärische Versagen in Gaza unter den Teppich kehren, wo es zwar zahlreiche Massaker an Zivilisten gab, die Hamas aber immer noch nicht militärisch zerschlagen wurde. Gleichzeitig könnte Netanyahu Israel durch eine Eskalation wieder den Ruf als bedrohtes Opfer geben und wertvolle Zeit gewinnen, um an der Macht zu bleiben und Gerichtsverfahren gegen sich wegen Kriegsverbrechen zu entkommen.
Kann oder wird die Hisbollah ohne Nasrallah nun eskalieren? Es ist völlig unklar, wie die Hisbollah reagieren wird. Fest steht nur: Das wird sie in den verbliebenen Kommandostrukturen allein entscheiden.Die Hisbollah verfügt weiterhin über 40.000 bis 100.000 Kämpfer. Schätzungen variieren. Während Israel weiter den Libanon bombardiert, schießt auch die Hisbollah weiter Raketen auf Ziele in Israel. Die Hisbollah hat Druck von ihrer Basis, sich für Nasrallahs Ermordung zu rächen. Nasrallah galt, selbst bei den Israelis, als rationaler Stratege. Wer ihn beerben wird und welche Strategie nun folgt, wird sich in den nächsten Stunden und Tagen zeigen. Es könnte zu einem Krieg kommen. Es könnte aber auch zu einer Deeskalation kommen, weil die Hisbollah sich stabilisieren muss.
Was ist die Hisbollah eigentlich? Die Hisbollah ist eine libanesische Partei und Miliz, die 1982 als Reaktion auf den israelischen Einmarsch im Südlibanon mit Hilfe des Irans und Syriens gegründet wurde. Die Hisbollah vertritt die Mehrheit der Schiiten Libanons, die rund 28 % der Bevölkerung ausmachen, im libanesischen Parlament. Mit dem Bürgerkrieg im Libanon 1975 bis 1990 etablierte sich die Hisbollah auch als militärische Schutzmacht der schiitischen Interessen im Libanon. Die Hisbollah hatte mehrere militärische Konflikte mit Israel, z.B. im Libanonkrieg 2006. Die Hisbollah gilt in der EU und in den USA, aber auch in Malaysia oder Saudi-Arabien als Terrororganisation. Im Libanon ist sie der mächtigste Akteur. Viel der sozialen Infrastruktur im Süden Libanons, wie z.B. Krankenhäuser, wurde durch die Hisbollah aufgebaut.
Was bedeutet Nasrallahs Tod für den Libanon? Die Ermordung hinterlässt ein Vakuum, wie nach der Ermordung von Rafik Hariri. Nasrallah war der wohl mächtigste Mann im Libanon. Es könnte ein Machtkampf um Einfluss ausbrechen.
Warum war Nasrallah bei vielen so beliebt? Nasrallah galt als Gesicht des Widerstands im Libanon. Während des Libanonkriegs 2006, in dem die Hisbollah Israel eine strategische Niederlage zufügte, entwickelte sich ein Heldenstatus um ihn. Seine Reden wurden mit Spannung erwartet und verfolgt. Primär aber war er als Kopf der Hisbollah der Vertreter der Schiiten im Libanon, einem vielfältigen Land mit diversen Interessengruppen. Die Hisbollah stieg durch iranische und syrische Unterstützung zum mächtigsten Akteur im Libanon auf. Sie verlor in den letzten Jahren aber an Beliebtheit. Insbesondere bei den anderen Bevölkerungsgruppen.
Warum wird auch dem Iran die Schuld gegeben? Der Iran gilt als mutmaßliche Schutzmacht der Hisbollah. Genauer: Der Iran beansprucht den Schutz von Schiiten auch außerhalb des Irans. Hinzukommt: Der Iran gilt als mächtigstes Glied der sogenannten „Achse des Widerstands“, der sich sowohl die Hamas als auch die Hisbollah zuschreiben. Dass der Iran sich militärisch zurückhält, nachdem der Hamas-Vorsitzende in Irans Hauptstadt getötet wurde und beinahe die gesamte Führungsriege der Hisbollah getötet wurde, wird von vielen als Verrat betrachtet. Ohnehin gibt es die weitverbreitete Verschwörungstheorie in der arabischen Welt, Israel und der Iran würden „unter einer Decke stecken“. Dass die Houthi-Rebellen im Jemen, die arabische Hisbollah im Libanon – oder auch die Hamas in Gaza – allein die Verluste ertragen, verfestigt den Vorwurf, dass der Iran seine Verbündeten im Stich gelassen hätte. Andererseits könnte Nasrallahs Tötung diesmal tatsächlich eine iranische Reaktion provozieren.
Warum gibt es auch Jubel über Nasrallahs Tod? Die Hisbollah ist nicht überall beliebt. Sie hat anhaltende Feinde aus den Zeiten des Bürgerkriegs im Libanon. Wichtiger aber: Die Hisbollah stand insbesondere für ihre Teilnahme am Syrischen Bürgerkrieg auf Seiten der Regierung Assads in der Kritik. Die Menschenrechtsgruppe Amnesty International wirft der Hisbollah z.B. Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, da sie sich an der Belagerungstaktik „Ergib dich oder verhungere“ in Syrien beteiligt hätte, durch die zahlreiche Zivilisten verhungerten. In Teilen Syriens, in denen Rebellen regieren, wurde deshalb sogar gefeiert, als die Nachricht von Nasrallahs Tod verkündet wurde. Der Hisbollah im Libanon wird auch vorgeworfen, die tatsächliche Macht im Libanon an sich gerissen zu haben und relevante Entscheidungen allein zu treffen. Die Haltungen könnten nicht verschiedener sein.
Was bedeutet das alles für Gaza? Wahrscheinlich nichts Gutes. Auch während der Eskalation im Libanon ging Israels Krieg gegen Gaza unvermindert weiter. Netanyahu hat mit der Schwächung der Hisbollah ein internationales Druckmittel entfernt. Die USA und andere Akteure drängten bislang auf Verhandlungen für eine Waffenruhe, um einen Flächenbrand, nämlich Krieg im Libanon, zu vermeiden. Auch eine geschwächte Hisbollah könnte theoretisch noch Krieg bedeuten, aber nicht in dem befürchteten Ausmaß. Zumal der Iran immer wieder seine Zurückhaltung deutlich gemacht hat. Das heißt: Netanyahu sieht einen Freifahrtschein für sein Vorgehen in Gaza. Es könnte aber auch dazu beitragen, dass die Welt größeren Druck auf Israel aufbaut, endlich aufzuhören, um noch Schlimmeres zu vermeiden.
Wie muss international reagiert werden? Bei über 41.000 Getöteten in Gaza und nunmehr über 1.200 Getöteten im Libanon wirkt es fast schon absurd, noch Forderungen zu stellen. Aber: Natürlich muss die internationale Staatengemeinschaft Israels erneute Eskalationen deutlich verurteilen und alle Akteure, insbesondere eben Israel, zu einer sofortigen Waffenruhe in allen Gebieten drängen. Die Hauptleidtragende dieses „Konfliktes“ sind schutzlose Zivilisten in Gaza und Zivilisten im Libanon. Für sie gibt es keine Luftabwehr, wenn israelische Bomben auf sie regnen. Es darf keine weiteren Beschwichtigungen oder Rechtfertigungen mehr geben. Schon seit 11 Monaten nicht.