Der Tyrann Assad ist gefallen.
Wie geht es uns nach dieser turbulenten Woche? Nicht wenige unter uns verfolgen Syrien seit 2011 intensiv. Alles hat man gesehen. Volksproteste, Niederschlagung der Proteste, Unterdrückung, Verfolgung, Aufstand, Terror, Bürgerkrieg, Einmischung von Großmächten, alles, wirklich alles. Und dann geht es so schnell.
Für die aller meisten sind das Momente der Freude und Hoffnung. Das Assad-Regime ist gefallen. Alleingelassen von Russland und dem Iran. Ein nackter Diktator, der 13 Jahre gewaltsam hinauszögerte, was sich nun in einer Woche entladen hat.
Für viele, auch die Hoffnungsvollen, drängen sich ebenso Sorgen auf. Sorgen vor Chaos, weiterem Krieg, Terror, Extremismus oder Verfolgung.
Gerade Minderheiten blicken ins Ungewisse. Nicht immer unbedingt pessimistisch, aber eben mit Unruhe.
Das betrifft nicht nur Syrien. Auch im Libanon, im Irak, ja selbst in Palästina, fragt man sich, ob es nun besser oder schlechter wird.
Wenn diese Tage nun also eines sein sollten, dann Tage der Empathie.
Syrien ist ein Vielvölkerstaat.
Er war darin nicht immer erfolgreich. Assad errichtete eine Dynastie rund um die Minderheiten der Alawiten, denen er angehörte. Assads Verbündete im Iran beschafften Schiiten einen weiteren Sonderstatus. Alle anderen konnten Teil des Teams sein. Wenn sie Assad bedingungslos huldigten. Baschar al-Assads Vater Hafez schuf damit ein gespaltenes Land. Es ist nur logisch, dass jetzt nach Assads Fall Alawiten, Schiiten, aber auch alle anderen Minderheiten Sorgen haben. Unter den Assads erhielten kurdische Syrer im Norden Syriens z.B. nur sehr selten Papiere. Kurdisch sprechen konnte zu Strafen führen. In Form von Gewalt. Die sunnitisch-arabische Mehrheitsbevölkerung wurde marginalisiert. Als die Terrorgruppe Daesh weite Teile Syriens überrannte, ließ der Assad-Staat letztlich viele Christen im Stich. Die Kurden sowieso.
Konfessionell stellen sunnitische Muslime (74 %) die klare Mehrheit, ethnisch stellen Araber (80 %) die klare Mehrheit. Es gibt ethnische Minderheiten wie Kurden (10 %), Turkmenen (4 %), Assyrer (3 %) oder Armenier (1 %) und religiöse Minderheiten wie Christen (6 %), Alawiten (11 %), Schiiten (4 %) und Drusen (3 %).
Nur Modelle, in denen alle Bevölkerungsgruppen geschützt und gleichberechtigt sind, können eine Lösung sein. Ein demokratisches, freies Syrien ist das, wofür die Menschen 2011 auf die Straßen gingen. Das, was Assad mit aller Brutalität zu verhindern versuchte.
Es ist Geschichte. 2012 bis 2016 sollen bei der Belagerung Aleppos durch Assads Armee und seinen Verbündeten insgesamt 31.273 Menschen getötet worden sein. Darunter 21.452 Zivilisten. Die Stadt war zu großen Teile ein Friedhof der Ruinen. Wer hätte damals gedacht, dass diese Stadt beinahe kampflos wieder die Kontrolle wechselt? Mit dem Verlust Aleppos zerfiel Assads Regentschaft in nur wenigen Tagen. Ohne russische, iranische und Hisbollah-Truppen kann Assad nicht viel. Es liegt vor allem daran, dass die syrische Regierungsarmee kaum mehr besteht und vor allem aber keine Inspiration für irgendwelche Endkämpfe in sich trägt. 13 Jahre Krieg haben das Land an den Abgrund geführt. Die Armut ist extrem. Die einzigen beiden Faktoren, die damals Menschen an Assad und das System gebunden haben waren.
A) Die Angst vor Verfolgung. Insbesondere unter Minderheiten. Daesh („IS“) bestätigte die Ängste.
B) Die Angst vor dem Verlust der eigenen Existenz. Insbesondere unter Staatsbediensteten. Das ging natürlich mit der Angst vor Verfolgung einher.
Beide Ängste genügten nun nicht mehr, um wirklich Stellung zu beziehen. Weil die Gegenseite aktuell die Ängste vorerst nicht bestätigt, da selbst die teils extremistische HTS sich als emphatisch für Minderheiten präsentiert und Staatsbediensteten Aussicht auf Übernahme gibt. Die Bevölkerung ist verarmt, hungrig, perspektivlos und ausgenommen.
Müssen also Minderheiten keine Angst haben?
Es wäre schön, das mit absoluter Sicherheit sagen zu können. HTS, die Gruppe, die Aleppo erobert hat, sorgte bei den vielen christlichen Einwohnern der Stadt erstmal für extreme Angst. Dann bemühte sich HTS aber schnell um das gegenteilige Bild. Das Gerücht wurde verbreitet, ein Bischof wäre Aleppos Bürgermeister geworden. Das waren Fake News. Ein syrisch-armenischer Freund von mir aus Aleppo schrieb daraufhin lachend: „Jetzt dürfen wir auch vier Frauen heiraten.“ Meine christlichen und kurdischen Kontakte in Aleppo beteuern, dass sie bis jetzt keine Übergriffe, Belästigungen oder Einschüchterungen erlebt haben. In den christlichen Vierteln nahm die Weihnachtsdekoration sogar zu. Das iranische Außenministerium sagt, HTS habe ihr den Schutz von Schiiten zugesagt. Die kurdische Miliz SDF und HTS hätten sich zudem Frieden zugesagt, heißt es.
Doch HTS nach einer Woche einfach so zu vertrauen, fällt weiterhin vielen natürlich schwer. Gerade jenen, die Familie an extremistische Gruppen verloren haben. HTS kämpfte bereits gegen verschiedene andere Rebellengruppen. Der Anführer der Gruppe ist ehemaliges Mitglied von Al-Kaida und Daesh („IS“). In einem neuen Interview mit CNN deutet er Kritik an den Gruppen an, schafft es aber nicht, sie zu verurteilen. Da scheitert Jolani, der ansonsten bemüht darum ist, als gemäßigter Staatsmann rüberzukommen. Vielleicht könnte das die Absicherung sein: Jolani wirkt, als wolle er einfach nur anerkannt werden. Eventuell ist ihm Extremismus dann egal. Nein HTS ist nicht „ISIS“ (Daesh). Und hoffentlich wird die Gruppe das auch nie. Aber die Sorge bleibt. Ob er oder Teile seiner Truppen, die im Namen Al-Kaidas und Daeshs Verbrechen gegen syrische Zivilisten begangen haben, jemals zur Rechenschaft gezogen werden, weiß man nicht. So wie man auch nicht weiß, ob Assad jemals vor Gericht landen wird.
Der Krieg endet hoffentlich. Aber eben nur hoffentlich.
Es ist absehbar, dass die verschiedenen Fraktionen, die Assad zum Sturz brachten, um Vormacht ringen. Idealerweise nur politisch. Die Nachbarländer werden versuchen, schnell Stabilität in Syrien reinzubringen. Unsicheres Syrien = unsichere Grenzen = Probleme im eigenen Land. Aus jordanischen Regierungskreisen heißt es, die Türkei würde sich um Sicherheit und Wiederaufbau Syriens kümmern. Erdogan sieht sich als Teil des Siegs. Der Außenminister der Türkei, Hakan Fidan, sagt, die neue Regierung Syriens solle inklusiv sein und alle Syrer beinhalten.
Es ist absehbar, dass sich manche extremistische Fraktionen mit einer demokratischen Lösung nicht zufriedengeben werden. Es ist auch absehbar, dass Daesh im Machtvakuum wieder auftaucht.
Es ist ebenso absehbar, dass die Türkei weiter gegen SDF/YPG im Norden Syriens vorgehen wird. Bzw. syrische Fraktionen gegen sie vorgehen lässt. Die Assad-Regierung hatte der Türkei mal einen „Sicherheitskorridor“ entlang der gesamten Grenze zugesagt. Die türkische Regierung fürchtet, dass der PKK-Ableger YPG Nordsyrien als Ausgangspunkt für Angriffe auf die Türkei nutzt. Oder gar ein eigener Staat wird. Es könnte zu Kämpfen kommen. Und Flucht. Mehrfachflucht. Ein kurdischer Bekannter von mir flüchtete 2018 vor den Kämpfen in Afrin nach Tal Rifaat im Norden Aleppos. Letzte Woche flüchtete er von dort aus vor Kämpfen nach Manbij östlich von Aleppo. Er dachte bis gestern, auch von dort müsste er flüchten. Dann aber wehte plötzlich die neue syrische Flagge dort. Vielleicht, und das ist die Hoffnung vieler, geht das gesamte ehemalige Syrien nun friedlich im neuen Syrien auf. Gleichberechtigt und frei. Ob als Staat, Föderation oder Union. Wo wir wieder bei Hoffnung wären.
Was will Israel? Warum nicht, was wollen Palästinenser?
Palästinenser wollen Frieden und Freiheit. Hat die ihnen jemand gegeben? Nein. Auch nicht Assad. Syrien führte mehrmals Kriege gegen Israel. Die Assad-Dynastie auch. 1973 oder mehrmals im Libanon. Und man unterstützte die PLO unter Arafat enorm. Das ist alles lange her. Auch dass Assad Waffen Richtung Gaza schickte. Als die Hamas ihn für seine brutale Niederschlagung der Proteste in Syrien kritisierte, brach Assad die Beziehungen nach Gaza ab. Es gibt keine „Achse des Widerstands“, zu der Assad gehört. Er ließ einen seiner engsten Verbündeten, die Hisbollah, die allein im Libanon kämpfte, im Stich. Und so wurde auch Assad vom Iran, von der Hisbollah und Russland im Stich gelassen. Warum auch hätte jemand sich für ihn nochmal ins Feuer werfen sollen?
Israel bombardiert Waffenlager in ganz Syrien seit Assads Fall verstärkt. Israel will nicht, dass die Waffen in Händen der Rebellen oder anderer Gruppen landen. In Israel ist man nicht unglücklich über Assads Fall. Das wird die Hisbollah, einen erbitterten Gegner Israels, schwächen. Das steht außer Frage. Aber auch mit Assad und Irans freien Wegen in den Libanon war die Hisbollah schon auf sich allein gestellt.
Viel eher also werden sich Palästinenser, Libanesen und Syrer auf die Realität einstellen. Das heißt also nicht, dass das Genozid- und Apartheidsregime Israel, das international immer mehr isoliert ist, wirklich aufatmen kann. In Syrien wird kein pro-israelisches Regime an die Macht kommen.
„Alles eine große Spiel“
Es mag für manche Menschen kaum mehr vorstellbar sein, was Naturgewalten für ein Eigenleben haben. Dürren, Überflutungen, Erdbeben oder eben der Mensch. Ja, Syrien ist ein massiver Stellvertreterkrieg gewesen und diverse Regional- und Großmächte dräng(t)en ihre Interessen auf. Aber Syrien war auch ein riesiger Volksaufstand. Millionen von Menschen, die an Protesten teilnahmen. Beinahe ein ganzes Volk, das die Angst vor Assads Staatsapparat satt hatte. Die Rebellen kamen in dieser Woche nicht mit hochmodernen westlichen Waffen. Nein, sie siegten, weil Assads eiserner Griff lasch wurde. Es ist absehbar, dass insbesondere die Türkei, aber auch Katar, Saudi-Arabien und die USA weiter viel Entscheidungsmacht in Syrien haben werden. Ja, ganz „frei“ ist das nicht. Davor waren es eben Russland und der Iran. Aber, zum ersten Mal seit 1961 hat Syrien Aussicht auf echte freie Wahlen. Aussicht darauf, nicht in einem Folterkeller zu verschwinden, wenn man den Präsidenten kritisiert. Die Menschen wollen den alten Diktator nicht mit einem neuen Diktator austauschen. Ob er nun Jolani oder sonst wie heißt. Im aktuellen Klima klingt aber auch niemand so, als beanspruche er vollständige Macht. Und selbst wenn, denken sich viele Syrer, ließe sich ein neues Regime diesmal schneller entfernen als diese festgebissene Angst-Dynastie der Assads.
So wie man also hier und da fragt, „In wessen Interesse ist das“ muss man öfter und lauter die Frage stellen, „was sind die Interessen der Syrer“.
Schöne, naive Hoffnung.
Hoffnung ist oft naiv. Das heißt nicht, dass sie falsch ist. Die Gefahr, dass Syrien in einem Chaos wie einst der Irak, Afghanistan, Libyen oder Libanon fällt, ist durchaus da. Der Erfolg ist noch jung. Wie diszipliniert, verhandlungsoffen und klug die Rebellengruppen und wie involviert, intakt und effektiv bestehende Staatsstrukturen sind, wird sich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten zeigen. 13 Jahre Bürgerkrieg, in denen Syrer auf Syrer schossen, Stellvertreterkrieg, Unterdrückung, Terror und Folter sind viel Zeit. Viel Zeit, hoffentlich aber erheblich weniger, wird es auch in Anspruch nehmen, aus diesen Ruinen ein echtes Land zu bilden. Den meisten Syrern ist es das aber wert. Die bloße Aussicht auf etwas Anderes.
Die Zentralbank, der Präsidentenpalast und die iranische Botschaft wurden geplündert. Das war zu erwarten. Etwas mehr Chaos auch. Hoffentlich aber nichts Unaufhaltbares.
Aber der erste Eindruck ist: Die verblieben Regierungsstrukturen und die Rebellen haben sich auf eine Übergangslösung geeinigt, durch die auch Damaskus kampflos übergeben wurde. Läuft es gut, läuft Syrien weiter wie bisher. Läuft es besser, wird es, nun ja, besser.
Viele der fast 14 Millionen vertriebenen Menschen träumen von Rückkehr. Menschen träumen von Frieden. Glaubt ihnen ihre Freude. Und hofft mit ihnen, dass sich das Gute bewahrheitet und das Schlechte nicht. Jede Sorge ist berechtigt. Jede Hoffnung umso mehr.