Im Zuge des anhaltenden Konflikts im Nahen Osten sind Behauptungen und Gegenbehauptungen allgegenwärtig und oft schwer zu verifizieren. Eine solche Behauptung, die in jüngster Zeit für Aufsehen gesorgt hat, ist die Aussage des israelischen Militärs, dass das Rantisi-Krankenhaus in Gaza als Stützpunkt der Hamas diente. Viele Medien übernehmen die Propaganda unkritisch. Angesichts der schwerwiegenden Implikationen dieser Aussage ist es entscheidend, eine gründliche und unparteiische Überprüfung der Fakten durchzuführen. In diesem Faktencheck werden wir die verfügbaren Beweise, Zeugenaussagen und offiziellen Stellungnahmen untersuchen, um die Wahrheit hinter dieser Behauptung zu beleuchten. Ziel ist es, ein klares Bild der Situation zu vermitteln und die Realität von möglichen Missverständnissen oder Fehlinformationen zu trennen.
Fund der „Namensliste“
„Das ist eine Liste der Wachen, in der jeder Terrorist seinen Namen schreibt und jeder Terrorist hat seine eigene Schicht, die Leute zu bewachen“, sagt Armee-Sprecher Hagari.
Die Behauptung, die angebliche Liste sei ein Beweis für terroristische Aktivitäten, ist nach einfachem Blick auf die Liste klar widerlegbar. Tatsächlich handelt es sich bei dem Dokument nicht um eine Auflistung von Namen oder Aktivitäten, sondern um einen simplen Kalender. Die Einträge bestehen lediglich aus Wochentagen – Montag, Dienstag, Mittwoch und so weiter – ohne jegliche zusätzliche Informationen, die auf militärische oder subversive Aktivitäten hindeuten würden. Es scheint plausibel, dass dieser Kalender im hektischen und chaotischen Umfeld als einfache Tagesorientierung diente, um das Datum mit dem entsprechenden Wochentag in Verbindung zu bringen.
Windeln und Babyflaschen
Die Präsentation von Alltagsgegenständen wie Windeln und einer Babyflasche durch den Armee-Sprecher als angebliche Beweise für Geiselhaltungen ist irreführend und verzerrt die Realität des Rantisi-Krankenhauses, einer Einrichtung, die als Kinderklinik dient.
Solche Gegenstände sind in einer Kinderklinik alltägliche Notwendigkeiten und kein Indiz für kriminelle Aktivitäten. Darüber hinaus ist der Verweis auf den WHO-Kasten in diesem Kontext eine unangemessene Implikation, die darauf abzielt, die Glaubwürdigkeit internationaler Organisationen wie der UN und WHO in Frage zu stellen, indem sie fälschlicherweise mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden. Diese Darstellung ignoriert die grundlegende Funktion dieser Organisationen im Gesundheitswesen und ihre unparteiische Rolle in Konfliktgebieten.
Elektrokasten und vermeintlicher Tunnel
Der von der Armee vorgestellte Elektrokasten, der einen Dreiphasen-Wechselrichter enthält, wird typischerweise für Aufzugsmotoren verwendet.
Die Behauptung des Armee-Sprechers, dieser Kasten diene zur Versorgung eines vermeintlichen Tunnels, steht im Widerspruch zu seiner üblichen Verwendung. Zudem gehört der gezeigte Schacht nicht zum Rantisi-Krankenhaus, sondern ist Teil eines Privatgebäudes, das etwa 200 Meter entfernt liegt. In diesem Gebäude soll ein mutmaßliches Hamas-Mitglied gewohnt haben.
Motorrad als angeblicher Beweis
Der Armee-Sprecher nimmt ein Motorrad als Beweis für Hamas-Präsenz im Krankenhaus. Die Interpretation eines Motorrads durch den Armee-Sprecher als Beweis für eine Hamas-Präsenz im Krankenhaus vernachlässigt wichtige Kontextinformationen über die alltägliche und beliebte Nutzung solcher Fahrzeuge in Gaza.
Motorräder sind in Gaza sehr verbreitet, und ihre Verwendung ist natürlich nicht ausschließlich auf militärische oder terroristische Aktivitäten beschränkt. Der Nachrichtensender Al-Jazeera berichtete beispielsweise, dass in den Jahren 2008 und 2009 etwa 9000 Motorräder über die Grenze Ägyptens nach Gaza eingeführt wurden. Darüber hinaus wurden im jüngsten Chaos Motorräder – und in einigen Fällen sogar Kutschen und Fahrräder – als provisorische Rettungsfahrzeuge eingesetzt, besonders nachdem die Kapazitäten der Rettungsdienste stark eingeschränkt wurden. Diese Nutzung von Motorrädern im medizinischen Notfallkontext stellt die Behauptung, dass ihre bloße Anwesenheit auf eine terroristische Aktivität hinweist, entsprechend deutlich in Frage.
Präsentation von Waffen im Krankenhaus
Die Präsentation von Waffen durch den Armee-Sprecher, angeblich im Rantisi-Krankenhaus gefunden, darunter vier Gewehre, erfordert eine sorgfältige Kontextualisierung.
Es ist von Bedeutung, dass Israels ehemaliger Premierminister Yair Lapid bereits 2009 eine Taktik beschrieb, bei der Waffen platziert werden, um Situationen zu diskreditieren. Diese historische Bemerkung wirft Fragen über die Authentizität solcher Funde auf.
Weiterhin ist es relevant, die Glaubwürdigkeit des Armee-Sprechers Hagari in Betracht zu ziehen, insbesondere im Licht seiner Aussage, die in der israelischen Zeitung Haaretz am 10. Oktober 2023 veröffentlicht wurde: ‘Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit.’ Diese Äußerung legt nahe, dass die Priorität der israelischen Militäraktionen nicht unbedingt auf präzisen Informationen oder genauen Zielsetzungen basiert, was die Seriösität der behaupteten Waffenfunde in Frage stellt.
Kritische journalistische Fragen
Ein umsichtiger journalistischer Ansatz würde folgende kritische Fragen aufwerfen, um die offiziellen Darstellungen und Behauptungen zu hinterfragen:
- Bodycam-Aufnahmen: Warum werden keine Bodycam-Aufnahmen vorgelegt, die eindeutig belegen, dass israelische Truppen die Waffen im Krankenhaus gefunden und nicht selbst platziert haben? Solche Aufnahmen könnten entscheidende Beweise für die Glaubwürdigkeit der Behauptungen liefern.
- Evakuierung unter Belagerung: Wie war es möglich, dass Geiseln und mutmaßliche Hamas-Mitglieder evakuiert wurden, obwohl das Krankenhaus umstellt war und es keinen Tunnel im Krankenhaus gibt? Diese Frage zielt auf die logistische Plausibilität der offiziellen Darstellung ab.
- Bestätigungen durch Krankenhauspersonal: Warum gibt es keine Bestätigung seitens des Krankenhauspersonals bezüglich einer mutmaßlichen Präsenz der Hamas? Die Aussagen des Personals könnten wichtige Einblicke in die tatsächlichen Vorkommnisse im Krankenhaus bieten.
- Zurückgelassene Waffen: Wieso wurde das Krankenhaus fast vollständig geräumt, aber Waffen sollen zurückgelassen worden sein? Dies wirft Fragen nach der Konsistenz der Ereignisse auf.
- Fehlen unabhängiger Untersuchungen: Warum werden keine unabhängigen Untersuchungen zu den Vorfällen im Krankenhaus zugelassen? Unabhängige Untersuchungen sind entscheidend, um Transparenz und Objektivität zu gewährleisten.
- Bombardierung der Kinderklinik: Wenn angenommen wird, dass sich die Hamas mutmaßlich im Keller aufhielt, warum wurde dann das dritte Stockwerk der Kinderklinik am 5. November bombardiert? Dies wirft Fragen nach der Zielgenauigkeit und den tatsächlichen Absichten der militärischen Aktionen auf.
Bedeutung unabhängiger Untersuchungen
Es ist nicht auszuschließen, dass einige der Vorwürfe teilweise wahr sein könnten. Dennoch zeigt ein sorgfältiger Faktencheck deutlich, dass die aktuellen Anschuldigungen in ihrer Gesamtheit keinen Bestand haben. Dies sollte für jedes seriöse Medium offensichtlich sein. Der unreflektierte Umgang mit solchen Behauptungen grenzt an Kriegspropaganda. Journalismus, der sich lediglich auf Aussagen wie ‘Hamas sagt’ oder ‘die israelische Armee sagt’ verlässt, erfüllt nicht die Anforderungen an eine kritische und umfassende Berichterstattung. Es ist von größter Wichtigkeit, mit äußerster Vorsicht vorzugehen, um nicht dazu beizutragen, Krankenhäuser als legitime militärische Ziele darzustellen. Eine solche Darstellung könnte die Schwelle zu einem Kriegsverbrechen überschreiten. Es ist alarmierend und enttäuschend, dass es überhaupt notwendig ist, auf diesen grundlegenden Aspekt des internationalen Kriegsrechts hinzuweisen.
Die anhaltenden Versuche der israelischen Armee und Regierung, ihre Angriffe auf die medizinische Infrastruktur Gazas zu rechtfertigen, erfordern eine äußerst kritische Betrachtung. Die Faktenlage ist alarmierend: 22 der insgesamt 36 Krankenhäuser in der Region wurden zerstört oder sind außer Betrieb gesetzt. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es 137 Angriffe auf medizinische Einrichtungen in Gaza, bei denen 521 Menschen getötet und 686 verletzt wurden. Diese Zahlen sind nicht nur statistische Werte, sondern repräsentieren echtes menschliches Leid und den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung in einem ohnehin schon stark belasteten Gebiet. Organisationen wie die WHO und Ärzte ohne Grenzen warnen eindringlich vor den gravierenden Konsequenzen der Kriminalisierung von Krankenhäusern. Diese Warnungen unterstreichen die Dringlichkeit, internationale Standards und das humanitäre Völkerrecht zu wahren, um die Unantastbarkeit medizinischer Einrichtungen zu garantieren und unschuldige Leben zu schützen.
Die bisherigen Erkenntnisse unterstreichen nachdrücklich die Notwendigkeit unabhängiger Untersuchungen in Konfliktgebieten wie Gaza. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) führt bereits Untersuchungen gegen sowohl Hamas als auch Israel durch. Jedoch stellt die Tatsache, dass die israelische Regierung den ICC nicht anerkennt und ihm keinen Zutritt gewährt, ein signifikantes Hindernis für die Wahrheitsfindung dar. In einer solchen Situation muss der Journalismus eine unabdingbare Rolle als unabhängige und kritische Stimme übernehmen, besonders wenn der Journalismus vor Ort systematisch behindert wird. Das Committee to Protect Journalists (CPJ) dokumentiert 42 getötete Journalisten in der Region, was die Dringlichkeit von Aufklärung und transparenter Berichterstattung unterstreicht. Es ist essentiell, dass die Medien diese kritische Rolle annehmen, um Licht in die Dunkelheit der Konflikte zu bringen und zur Rechenschaftslegung beizutragen