Nach den USA ist Deutschland das Land mit den meisten Einwanderern. Weltweit. Wir sind ein Einwanderungsland. Ohne Einwanderung stünde hier alles still. Nicht nur, dass das nicht allen bewusst ist, wir haben leider auch nicht gelernt, wie man auf Menschen zugeht. Vielfalt wird bei uns als Herausforderung behandelt, nicht als Reichtum. Während Rassismus, Islamfeindlichkeit, Israelfanatismus und Panikmache den Ton angeben, hat Zohran Mamdani gezeigt, wie wie Hoffnung man vermitteln kann, wenn man sich um echte Probleme kümmert. Er holte Menschen dort ab, wo sie wirklich Hilfe brauchen. Probleme, von denen auch wir genug haben:
Lebensunterhaltungskosten, bezahlbares Wohnen, Rente, Bildungssystem, Drogen, Amut, Rassismus, zurückgehende Industrie, Städtesterben, Bürokratiehölle, Korruption. Um nur einige Beispiele zu nennen.
Es stellt sich also die Frage: Was können wir von dieser interessanten Wahl in New York, die Mamdani trotz einer riesigen hetzkampagne gewann, lernen?
Als Wählerschaft
Mamdani läuft den lieben langen Tag durch New York und schüttelt Menschen die Hand. Darauf hierzulande zu warten, wäre etwas naiv. Aber Mamdani ist auch das Ergebnis von Communitys, die ebenso auf ihn zugingen, wie er auf sie zuging. Das heißt: Der erste Schritt könnte die wechselseitige Effektivität entfachen. Vielleicht wartet da draußen eine deutsche Version Mamdanis. Vielleicht auch nicht. Wer auch immer da aber versucht, Politik zu machen, soll wissen: Ihr sitzt ihnen im Nacken. Entweder als kritische Gegner. Oder als Rückenwind. Die deutsche Politik ist irgendwo zwischen Elfenbeinturm und Sekte. Zu weit entfernt oder zu parteiisch. Ihr wollt nahbare Menschen als Vertreterinnen und Vertreter und ihr wollt Lösungen für eure Interessen. Eure Interessen stehen unter niemandes Interessen. Euch darf man nicht mit Copy-Paste-Mails abspeisen oder von oben herab erklären, wie ihr es richtig zu verstehen hättet. Sie, die Politikerinnen und Politiker, sind es, die euch hinterherzudackeln haben. Nicht andersrum. Erzieht sie also.
Als junge Leute
Mamdanis Erfolg war ein Erfolg des Bewegungbildens. So wie ich gerade dieses Wort gebildet habe, bildet ihr nach eurem Empfinden Gruppen. Auf eine Presseanfrage an Mamdanis Team antwortete mir beispielsweise mal „der syrische Zweig der demokratischen Sozialisten“. Sie haben nicht nur eine Gruppe gebildet, sondern verschiedenstee Zweige. Organisationen, die unabhängig vom Dünkel und den Blockaden herkömmlicher Parteien sind. Organisationen, die aber in Parteien hineinstrahlen und Druck aufbauen. Organisiert euch. Wofür und wie auch immer. Demokratische Teilhabe heißt nicht nur, alle paar Jahre auf einem Zettel anzukreuzen, wer einem am wenigsten scheiße vorkommt. Es heißt auch nicht nur, in eine Partei einzutreten und den Status Quo zu ertragen. Demokratische Teilhabe kann alles sein. Die Grundfreiheiten sind breit, erkundet die Möglichkeiten. Gerade die Protestbewegung gegen Israels Genozid machte deutlich, wie wichtig es ist, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wartet auf niemanden, seid es selbst.
Als Minderheiten
Gebt euch nicht mit Mittelmäßigkeit zufrieden. Ein Social-Media-Post zum Opferfest ist politische Kommunikation. Zu Jahrestagen sagen, „Einwanderer haben viel beigetragen“, ist die Feststellung eines Faktes. Anerkennen, dass die Lebensmittelpreise gestiegen sind, ist Bestätigung eines Problems. Ihr verdient mehr. Wer eure Namen ausspricht als seien sie Zungenbrecher, obwohl ihr Teil seiner Gesellschaft seid und er/sie euch kennen müsste, ist faul und desinteressiert. Erwartet Mühe. Wir können alle zusammen lachen, während wir alles mögliche falsch aussprechen; aber wir erwarten dieses Zusammensein. Bedingungslos. Keine Performance, sondern menschliche Nähe. Kann Heidi Reichinek drei Moscheen beim Namen nennen? Weiß Lars Klingbeil was Jollof ist? Hat Robert Habeck jemals Halay getanzt? Hat Sahra Wagenknecht Ghazali gelesen? Hat Jens Spahn im Leben eine Gastarbeiterfamilie besucht? Weiß Karl Lauterbach, wo es gute Pilmeni gibt? Weiß Friedrich Merz, welche Animes Jugendliche im Osten gucken? Sie können, wenn sie wollen. Straft Ignoranz knallhart ab. Und belohnt Menschlichkeit großzügig.
Als “Quotenmigranten”
Hört auf, auf Minderheiten raufzuhauen, um euch als „der bessere Ausländer“ zu präsentieren. Ihr seid Teil des Problems, wenn ihr denkt, es wäre nötig, die Schwächsten zu problematisieren, anstatt den Schwachen beim Erstarken zu helfen. Hört auf, euch von Minderheiten zu distanzieren, um im Mainstream nicht angreifbar zu sein. Hört auf, Stichwortgeber für Rassisten zu sein, die euch bei der leisesten Kritik ohnehin zerreißen werden. Hört auf, den Sog der Spaltung zu nähren, anstatt die echten Probleme in unserer Gesellschaft anzugehen. Und wenn ihr damit aufgehört habt, macht euch bewusst, dass auch das noch lange nicht ersetzt, selbst authentisch zu sein, Profil zu haben und nach vorne gehen zu wollen. Wer das Spiel der Rassisten mitspielte; wer feige war; wer den Genozid in Gaza nicht benannt hat; wer nicht bedingungslos auf Seiten der deutschen Muslime in Anbetracht grassierender Islamfeindlichkeit stand; wer die Bevölkerung nicht zusammenbrachte, der hat seine Chance bereits verspielt. Und sollte nicht jenen im Weg stehen, die es besser können. Zohran Mamdani wäre hier nie so weit gekommen, weil Deutschland ihne noch gnadenloser als die USA als „Antisemiten”, „Islamisten”, „Extremisten” und sonst was gebrandmarkt hätte.
Als Mainstream-Politiker
Erkennt, was es braucht. Nein, nicht die Show dahinter. Mamdani ist kein Social-Media-Phänomen. Es geht um Authentizität. Nun, man kann nicht aus dem Nichts plötzlich interessant werden. Aber man kann interessiert sein. Und das ist der entscheidende Unterschied. Mamdani sprach die vielen verschiedenen Communitys in New York individuell an. Auf Spanisch, Arabisch, Urdu, Italienisch, Chinesisch und in so vielen anderen Sprachen. Teilweise sogar in spezifischen Dialekten. Sie alle sprechen Englisch. Aber Mamdani zeigte damit: Ihr seid die Mitte meiner Bevölkerung und ich bin aus eurer Mitte. Nun, man kann auch nicht aus dem Nichts Kontakte haben. Aber man kann sie suchen. Das ist echte Arbeit. Mamdanis Gegner Cuomo scheiterte daran, es überhaupt zu versuchen. Worum es also wirklich geht: Erkennt gefälligst den Wert deiner Mitbürgerinnen und Mitbürger. Setzt euch für ihre Belange ein. Folgt nicht Trends; sondern sorgt dafür, dass ihr Leben nach eurer Amtszeit erheblich besser ist. Die Masse ist kein Gegengewicht zur Elite. Ihr musst nicht die Reichen und Starken ausbalancieren, sondern die einfachsten Leute repräsentieren. Tut ihr das nicht, seid ihr nichtsnützige Nutznießer.
Als Medien
Deutsche Medien lieben das Problem und hassen die Lösung. „Islamkritiker” und AfD-ler, die den Untergang des Landes aufbeschwören werden mit hunderten Talk-Show-Auftritten, Meinungsbeiträgen und Interviews belohnt, in denen sie überall und immer wieder erzählen, dass man all das ja nicht mehr sagen dürfte. Jene Stimmen sind die ersten, die Mamdani in New York und alle hier, die es ähnlich versuchen, angreifen. Das mag Zahlen und Klicks bringen. Aber Hoffnung bringt auch Klicks. Rassismus dominiert die Redaktionen und treibt sie vor sich her. Das ist in den USA nicht anders. Aber die Medien dort haben ihr blaues Wunder erlebt. Weil spätestens auch Israels Genozid in Gaza zeigte: Die Menschen lassen sich ihr Denken nicht von ausgewählten Stichwortgebern vorschreiben. Die Weiten des Internets geben Zugang zu so viel mehr als die eingeschränkte Provinz des deutschen Mainstreams. Öffnet euch dafür. Schöpft Freude und Hoffnung an der Möglichkeit, dass es endlich sachdienliche, menschliche Perspektiven gibt. Erweitert euren Horizont, bildet euch, legt Blockaden ab. Presse ist dafür da, der Zivilgesellschaft zu dienen. Also arbeitet für ihren Nutzen.
Als Parteien
Niemanden außerhalb eurer Partei interessiert eure Partei, euer Logo oder euer Parteibuch. Ihr seid der selbe Parteigänger wie der Parteigänger jeder anderen Partei. Ideologie blockiert Fortschritt. Also nehmt diese Struktur, die ihr als gegeben seht, nicht zu ernst. Es muss um Menschen gehen. Wenn es jemanden gibt, der Menschen angemessen vertritt und Hoffnung verbreitet, dann ist es schlichtweg egal, ob er/sie euren Parteivorstellungen entspricht. Mamdani wurde von seiner eigenen Partei dämonisiert. Es dauerte lange, bis Teile der Parteielite zumindest zurückhaltend Unterstützung äußerten. Und genau dieser Kontrast ist der Grund, warum Mamdani Erfolg hatte. Er war erkennbar anders. Und losgelöst von lähmenden Strukturen. Er schaffte es auf eigene Faust, mit neuen, frischen Leuten ohne Legitimierung von der Parteispitze. Reformiert euch. Altes muss dem Neuen weichen. Damit seid ihr mitgemeint. Nur wer versteht, dass er ersetzbar ist, wird Einzigartiges bewirken können. Niemand braucht euch wirklich. Macht euch also brauchbar.
Als Gesellschaft
Stellt euch vor, was möglich ist, wenn man über echte Probleme spricht. Und sich nicht mehr von Stichwortgebern hinters Licht führen lässt. Wenn man bezahlbares Wohnen und Jobmöglichkeiten auf die Tagesordnung setzt, anstatt immer wieder aufs Neue die nächste Integrationsdebatte zu erfinden. Vielfalt ist unsere Karte zu unzähligen Zugängen. Wir haben die Chance, eine ungezähmt kluge Gesellschaft zu formen, die das Beste aus allen Erfahrungen, Geschichten und Möglichkeiten hervorbringt. Eine Stadt wie New York weiß das über sich selbst, weil sie ihre Geschichte akzeptiert. Der große Komplex unseres Landes aber ist seine Geschichte. Deshalb unterstützte unser Land wieder einen Genozid, tauschte die Pauschalisierung „die Juden” mit „die Muslime” aus und hat keine Antwort auf Fragen der Zukunft. Nazi-Deutschland löschte Deutschlands Wege der Vielfalt aus. Wir müssen nun gemeinsam das vielfältige Deutschland, von dem Goethe und Schiller einst träumten, aufleuchten lassen. Nur muss dieses „Wir” dann eben auch alle meinen. Es wird immer Hetzer geben, die nicht dazugehören wollen. Außer stören können sie ohnehin nicht viel. Stellt euch also ein Land vor, in dem Menschen sich zugehörig fühlen und Probleme lösen. Mit dieser Hoffnung gewannen Mamdani und sein Team.
“Gut Deutsch sein, heißt: Sich entdeutschen”
“Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen. – Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener Culturstufen und zum geringsten Theile etwas Bleibendes (und auch dies nicht in einem strengen Sinne). Deshalb ist alles Argumentiren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend für Den, welcher an der Umschaffung der Überzeugungen, das heißt an der Cultur arbeitet. Erwägt man zum Beispiel, was Alles schon deutsch gewesen ist, so wird man die theoretische Frage: was ist deutsch? sofort durch die Gegenfrage verbessern: »was ist jetzt deutsch?« – und jeder gute Deutsche wird sie praktisch, gerade durch Überwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab; bleibt es stehen, verkümmert es, so schließt sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängnis herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist dies ein Beweis, daß es versteinern will und ganz und gar Monument werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpunkte an das Ägypterthum war. Der also, welcher den Deutschen wohlwill, mag für seinen Theil zusehen, wie er immer mehr aus Dem, was Deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.” – Friedrich Schiller (Menschliches, Allzumenschliches II (Aph. 323/324))