Daesh („IS“ genannt) bekennt sich zum Angriff in Solingen. Es sei „Rache für die Muslime in Palästina“ und „ein Angriff auf Christen“.
Als jemand, der auf einer Abschussliste von Daesh stand, sage ich: Lassen wir uns von diesen Verbrechern nicht hinters Licht führen! So wie wir uns nun auch nicht dem Hass von Nazis und Palästinenserhassern ergeben dürfen. Niemand unter den schutzlosen Zivilisten Gazas ist durch diese grausame Gewalt vertreten. Die Menschen dort wollen Frieden und Freiheit, keine „Rache“. Und christliche Palästinenser fallen genauso Israels Krieg zum Opfer, alle (!) Kirchen Gazas wurden zerstört. Muslime und Christen sind sich immer näher, als sie es solchen Kriminellen jemals sein werden. Wir stehen alle zu den Opfern, nicht zu irgendwelchen Hasserfüllten.
Daeshs Weltbild ist schwarz-weiß. Sie, die Anhänger der Gruppe, seien „die Muslime“ und alle anderen wären ihre Feinde. Das schließt sämtliche Weltanschauungen, auch Muslime, ein. Daesh ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Terrorgruppe. Es geht ihr um größtmöglichen Schock und Schaden. Ihre Ziele werden nicht primär ideologisch ausgesucht, sondern entsprechend der größten Chance auf massive Wirkung. Ihre jetzige Erklärung, „Christen“ angegriffen zu haben, zeigt das beispielhaft. Natürlich waren unter den Besuchern des Stadtfestes in Solingen nicht nur Christen, sondern auch Muslime und sämtliche andere Bevölkerungsteile der Stadt.
Als Daesh-Terroristen z.B. 2016 im französischen Nizza einen Anschlag verübten, war ein ganzes Drittel der 86 Opfer muslimisch. Kommen wir kurz mit dem Sprachlichen: Die meisten Opfer Daeshs sind Muslime, da Daesh sich primär im arabischen Raum ausbreitete und dort Menschen ermordete. Auf arabisch entstand deshalb die die Abkürzung Daesh für den Eigennamen der Terroristen, nämlich „Islamischer Staat in Syrien und im Irak“. Aber gleichzeitig ist Daesh auch eine beleidigende Bezeichnung, die vom Klang her so viel heißt wie, jemand der trampelt und jemand der Zwietracht sät. Es ist wichtig diesen Begriff statt „IS“ oder „Islamischer Staat“ zu nutzen, um diesen Verbrechern nicht zuzugestehen in irgendeiner Weise für Muslime zu stehen. Daesh-Extremismus ist auch nicht plump als „Islamismus“ zusammenzufassen, man sollte die Probleme konkret und korrekt benennen. Bei Daesh handelt es sich ideologisch betrachtet um zeitgenössische Chawaridsch, die sich theologisch aus einer Sonderprägung des Wahhabismus entwickelt haben.
Um Daeshs Aufstieg ranken sich zahlreiche Mythen. US-Präsident Trump behauptete, dass Obama und Clinton „die Gründer des IS“ seien. Der ehemalige afghanische Präsident Karzai behauptete ebenfalls, Daesh sei ein Werkzeug der Vereinigten Staaten. Mehrere Staaten und Gruppierungen werfen sich gegenseitig Unterstützung Daeshs vor. Fest steht: Im Zuge des Chaos nach dem Irakkrieg und während des Syrischen Bürgerkriegs formierte sich Daesh zunächst als Ableger Al-Kaidas und überrannte weite Teile des Iraks und Syriens. Nachdem Daesh von einer Vielzahl von Akteuren militärisch zurückgedrängt wurde, ging Daesh primär in vereinzelte Terroranschläge über. Daesh ist der Meinung, ihr Anführer wäre „der Kalif“, was von Muslimen weltweit natürlich abgelehnt wird.
Stichwort Gaza: Daesh versuchte 2015 in Gaza fußzufassen. Die erste Aktion in Gaza war die Ermordung eines Hamas-Kommandanten. Die Hamas zerschlug die Gruppe aber. 2019 verübten die Terroristen einen letzten Anschlag in Gaza, der drei Menschenleben forderte. Im Grunde genommen sind Daesh-Terroristen Nihilisten. Nihilismus nennt man eine Haltung, wonach Sinn, Bedeutung und Ordnung nicht existieren würden. Jemand, der von Grund auf gegen alles ist und alles ablehnt. Natürlich sind Daesh-Terroristen keine vorbildlichen Muslime. Sonst würden sie Menschenleben achten und wären vertraut mit der Lehre, dass diese Morde schwerwiegende Sünden darstellen. In einem von Dschabir ibn ‘Abdillah überlieferten Hadith des Propheten Muhammad, Allahs Frieden und Segen auf ihm, heißt es über (solche) Extremisten: „Sie rezitieren den Koran, aber er geht nicht über ihre Kehle hinaus. Und sie werden durch ihn (den Koran) spurenlos hindurch schießen, so wie der Pfeil durch die Beute geht.“ Sie kennen weder Islam noch Allah. Ihr missbräuchlicher Ruf „Allahu Akbar“ (Allah ist größer), eine Überzeugung, die Muslime täglich im Gebet und Alltag sprechen, ist in ihren Fällen in Wahrheit nur ein „ich bin der Größte“. Denn nur in dieser, alles andere verneinenden Haltung kann man sich einreden, so etwas tun zu dürfen.
Was will Daesh erreichen? Daesh will wie die meisten anderen extremistischen Gruppen offenes Chaos, um daraus Nutzen zu ziehen. Es geht nicht um konkrete politische Ziele, sondern um Zwietracht. Anschläge in Europa sollen zu Hass gegen Muslime führen, Muslime sollen sich ausgegrenzt fühlen, Medien, Politik und letztlich auch Muslime sollen bei der Schlussfolgerung landen: Islam = Daesh und Daesh = Islam. Das stärkt Daesh. Man kann Daesh sowohl historisch als auch zeitgenössisch einordnen. Einerseits steht Daesh in der Tradition der Chawaridsch, einem Oberbegriff für eine extreme Bewegung zur Zeit des Propheten und kurz danach. Und ja, schon zur Zeit des Propheten gab es, sich dem Islam zuschreibende, Menschen, die der ernsten Meinung waren, es besser als er zu wissen. Andererseits ist Daesh auch als moderne Bewegung zu verstehen, die Elemente des modernen Staates und moderner Kriegsführung kopieren und „islamisch“ anmalen will.
Das größte Problem im Umgang mit Daesh ist, dass jeder Verwirrte über Umwege bei Daesh landen kann. Die Gruppe speist sich aus sozial isolierten, oft drogenabhängigen, erfolglosen, kriminellen und meist unreligiösen Einzelfiguren mit Hang zu einfachen (extremen) Antworten. Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer nennt das treffend einen „Baukasten-Islam“, der dann entsteht. Um sich selbst zu heiligen, ergibt sich um diese religionsfernen Verwirrten ein Buffet an ausgewählten Inhalten. Gebet, Selbsterkenntnis, Reue, Gottesgedenken, Spenden, Familie, Arbeit; also Aufgaben, die Muslimen tatsächlich als reale Pflichten auferlegt sind, spielen dabei keine primäre Rolle. Dafür kommen falsch ausgelegte Vorstellungen von Dschihad (nicht aber das Bekämpfen des Egos, sondern Krieg) und „das Rechte gebieten und das Schlechte verbieten“ oben auf die Tagesordnung. Kurz: Diese religionsfernen Extremisten maßen sich Urteile über jeden an, nur nicht über sich selbst.
Will man effektiv etwas gegen Daeshs Einfluss tun, muss man ans Internet. Dort beginnt die Radikalisierung laut dem Extremismusforscher Olivier Roy so gut wie immer. Wer eine falsche Haltung sucht, wird im Internet einen anderen mit falscher Haltung finden, der die falsche Haltung als richtige darstellt. Auf TikTok z.B. können sich Hochstapler als Prediger darstellen und Daesh-Reden ungehindert abgerufen werden. Wer anfällig für diesen Extremismus ist, hat meistens kein soziales Umfeld und nichts mit Moscheen zu tun. Deshalb reicht es nicht, nur auf das eigene Umfeld zu achten. Will die Gesellschaft wirklich etwas gegen diese Form von Extremismus tun, muss man die muslimischen Gemeinden stärken; indem man sie z.B. endlich staatlich anerkennt. Denn ohne lästige Bürokratie und ständigen Medientrubel könnte man sich so viel mehr darauf konzentrieren, die richtigen Angebote im Internet an den richtigen Stellen zu bringen, damit Jugendliche den Unterschied zwischen echtem Wissen und echtem Glauben auf der einen Seite und religionsfernen, politisiertem Hass auf der anderen Seite erkennen.
Machen wir uns nichts vor, Hass ist ein erfolgreiches Geschäft. Das weiß Daesh. Das wissen aber auch die AfD oder die Bild. Die Trommel wird nun gerührt für Hetze gegen Muslime, gegen Geflüchtete, gegen Migranten und was auch immer gerade ins Konzept passt. Diesen Stimmen geht es nie um Menschen. Woran man das sieht? Erst kürzlich randalierten in UK Nazis, nachdem laut Fake News ein Muslim in Southport drei Kinder getötet haben soll. Als zwei Wochen später erneut ein Verwirrter in Stirling (UK) drei Frauen abstach, blieb es ruhig. Zwar verbreitete der islamfeindliche, pro-israelische Lobbyist Tommy Robinson kurzzeitig, es wäre ein Muslim gewesen, aber die Polizei stellte das schnell richtig. Natürlich echauffieren sich Rassisten auch nicht über die explodierende Gewaltkriminalität gegen Muslime. Man sollte also für keinen Moment auf die Hetze reinfallen. Es geht um das Zeichnen eines Feindbilds.
Will man den Hass besiegen, muss man hochhalten, was vom Hass verachtet wird. Und das ist nunmal Vielfalt und Freiheit.