Wie eine Gemeinschaft aus Stolz handelte, Medien die Geschichte verzerrten und rechte Hetzer davon profitierten
Wer in den letzten Wochen durch die Kommentarspalten scrollte oder auf X (früher Twitter) unterwegs war, konnte meinen, Tarek Baé hätte eine Staatsaffäre ausgelöst. Dabei hatte der Journalist auf sozialen Medien lediglich eine Geschichte geteilt, die schon längst im Umlauf war: Die 11-jährige Lina Heider, Deutschlands jüngste Abiturientin, sei afghanischer Herkunft. Er lag damit falsch. Das hat er auch eingeräumt. Und zwar öffentlich, transparent und ohne Ausflüchte.
Was jedoch kaum ein Medium im Genuss der Verriss dazusagt: Baé war nicht der erste, der diesen Irrtum verbreitete. Auf TikTok kursierten bereits Tage vor seinem Post zahlreiche Videos, die Lina als „Hazara-Mädchen“ oder „afghanisch-deutsche Abiturientin“ feierten. Viele dieser Beiträge kamen von Accounts mit afghanischem Hintergrund, voller Stolz, Freude und Hoffnung. Namen wie @parigak68, @milado26 oder @yunuspeace_ hatten ihre Videos mit berührenden Botschaften versehen, lange bevor Baé die Geschichte aufgriff. Auch afghanische Politiker der gestürzten Regierung in Kabul verbreiteten die Meldung. Bekannte afghanische Journalisten verwiesen darauf. Die Ursprungsidee war nicht beabsichtigt Lüge. Sie war Sehnsucht.
Denn hinter der viralen Welle stand ein Impuls, den man verstehen kann: Die Community feierte ein Mädchen, das es geschafft hat. In einer Zeit, in der afghanische Mädchen unter der Taliban-Herrschaft nicht einmal zur Schule gehen dürfen, war Lina Heider ein Symbol für das, was möglich wäre, wenn Bildung nicht unterdrückt würde. Die Zuschreibung „Hazara“ oder „afghanisch“ sollte keine Biografie fälschen, sondern ein Zeichen der Hoffnung sein. Woher die Zuschreibung wirklich kam lässt sich nur schwer feststellen.
Dass Baé darauf einging, war also keine „Agenda“, wie einige Medien ihm vorwerfen. Was soll diese „Agenda“ sein? Sich für afghanische Mädchen starkzumachen? Auf das Bildungs-Desaster in Afghanistan hinzuweisen? Ist das plötzlich verwerflich? Oder dürfen migrantisch gelesene Personen keine Fehler machen und müssen immer einen boshaften geheimen Plan verfolgen?
Man könnte meinen, die eigentliche Wut der Kommentator:innen und Medien trifft nicht den Fehler, sondern den Absender. Denn was folgte, war kein nüchterner Faktencheck, sondern eine öffentliche Abrechnung. Das ZDF etwa veröffentlichte einen fixierten Beitrag auf Instagram, in dem Baé nicht als Journalist, sondern abwertend als „Islam-Influencer“ bezeichnet wurde. Diese Vokabel ist nicht neutral, sie kommt mit einer Markierungabsicht voller Abgrenzung und rassistischer Konnotation. Baé ist kein Influencer. Und was qualifiziert ihn, ein “Islam-Influencer” zu sein? Seine Zugehörigkeit zum muslimischen Glauben? Tarek Baé ist ein beliebter Journalist, der sich mit Gaza und Medien beschäftigt. Islam gehört nicht zu seinen Inhalten.
Während konservative Kolumnist:innen wie Robin Alexander oder Jan Fleischhauer ständig kritisch über Medien schreiben dürfen, ohne dass man ihnen den Journalisten-Status abspricht, reicht bei Baé offenbar ein Fehler, um ihm den Berufsstand zu entziehen. Hieße er Thomas, wäre das nicht passiert. Die perfide Markierung ist durchschaubar. Tarek Baé ist nicht irgendwer, er gehört zu den mitunter anstrengenden Medienkritiker:innen im deutschsprachigen Raum. Seine Vorwürfe gegen Medien wie das ZDF sind größer als das bloße Weiterverbreiten einer ungeprüften Herkunftsgeschichte. Wollte man ihn mit den Beiträgen abstrafen? Seine Seriösität angreifen?
Dass dann ausgerechnet Leute wie Ahmad Mansour oder rechte Kulturkämpfer:innen aus der AfD diese Medienbeiträge nutzen, um gegen „den Islam“, „Islam-Influencer“ oder „woke Medienkritiker“ zu hetzen, ist kein Zufall. Baé war mit seiner Kritik an der Berichterstattung über Gaza unbequem. Und offenbar wurde nun eine Gelegenheit gesucht, ihm einen Dämpfer zu verpassen.
Niemand bestreitet, dass es wichtig war, die Herkunft von Lina Heider korrektzustellen. Baé selbst tat das, entschuldigte sich öffentlich und reflektierte in einem längeren Beitrag auf Itidal.de, wie der Fehler passieren konnte. Doch wie unverhältnismäßig heftig und gehässig manche Reaktionen ausfielen, offenbart ein tiefsitzendes Problem: Es geht nicht nur um Fakten, sondern um Deutungshoheit. Und wer wie Tarek Baé versucht, marginalisierten Perspektiven mehr Raum zu geben, wird schnell zum Feindbild.
Die eigentliche Geschichte der letzten Wochen war nicht, dass sich jemand in gutem Glauben geirrt hat. Sondern wie reflexartig die mediale Empörung auf ihn einschlug. Während die Rechten applaudierten.
Disclaimer: Die Autorin absolviert ein Praktikum in der Itidal-Redaktion.