Ein historischer Tag. Am 11. Januar 2023 begann die Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen Israel. Noch nie wurde ein Vorwurf eines Genozids so detailliert vorgetragen. Südafrika hat die Klage eingereicht. Die Vertreterinnen und Vertreter Südafrikas präsentierten am Donnerstag ihre Erklärungen zu der 84-seitigen Anklageschrift, in dem das UN-Gericht und die internationale Staatengemeinschaft dazu aufgefordert werden, Israels Genozid an den Palästinensern in Gaza zu beenden:
“Es wäre eine völlige Abweichung von der Rechtsprechung, wenn der Gerichtshof keine einstweiligen Maßnahmen anordnen würde. Das Ansehen des internationalen Rechts, seine Fähigkeit und Bereitschaft, alle Menschen gleichermaßen zu binden und zu schützen, steht auf dem Spiel”, so Blinne Ni Ghralaigh, eine der juristischen Vertretungen der Klage.
Südafrikas Botschafter in den Niederlanden, Vusi Madonsela erklärte zur Einführung die Entscheidung Südafrikas, das IGH gegen Israel einzuschalten. Madonselas Anmerkungen sind wichtig, um zu verstehen, warum das Land Südafrika, in dem die schwarze Bevölkerung die Apartheid besiegte, während Israel das Apartheidsregime systematisch unterstützte, ein solches Interesse am Schutz der Palästinenser hat.”Zunächst erkennt Südafrika an, dass die völkermörderischen Handlungen und Genehmigungen des Staates Israel unweigerlich Teil eines Kontinuums illegaler Handlungen sind, die seit 1948 gegen das palästinensische Volk begangen wurden”, so Vusi Madonsela.
“Der Antrag stellt die völkermörderischen Handlungen und Unterlassungen Israels in den breiteren Kontext der 75-jährigen Apartheid Israels, der 56-jährigen Besatzung und der 16-jährigen Belagerung des Gazastreifens.”
Eine der Juristinnen und Juristen, die Südafrikas Klage vor dem Gericht verteten, ist die Südafrikanerin Adila Hassim. “Südafrika wirft vor, dass Israel gegen Artikel 2 der Konvention (Völkermord-Konvention) verstoßen hat, indem es Handlungen begangen hat, die unter die Definition von Völkermord fallen. Die Handlungen zeigen systematische Verhaltensmuster, aus denen auf Völkermord geschlossen werden kann”, so Adila Hassim.Hassim erklärt, dass der “erste völkermörderische Akt die Massentötung von Palästinensern im Gazastreifen” ist, während sie Fotos von Massengräbern zeigt, in denen Leichen begraben wurden, “die oft nicht identifiziert wurden”. “Israel setzte 6.000 Bomben pro Woche ein. Mindestens 200 Mal hat es 2.000-Pfund-Bomben (907 kg) im südlichen Gazastreifen eingesetzt, den es als sicher bezeichnet”, verdeutlicht Hassim.”Niemand wird verschont. Nicht einmal Neugeborene. UN-Chefs haben Gaza als Kinderfriedhof bezeichnet.”
Adila Hassim erklärt dann, was sie als Israels zweiten völkermörderischen Akt bezeichnet:
– Dass Israel den Palästinensern in Gaza schwere körperliche oder seelische Schäden zufügt, verstößt gegen Artikel 2B der Völkermord-Konvention.
– Durch Israels Angriffe wurden fast 60.000 Palästinenser verwundet und verstümmelt, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Und das alles in einer Situation, in der das Gesundheitssystem praktisch zusammengebrochen ist.
– Zahlreiche palästinensische Zivilisten, darunter auch Kinder, werden verhaftet, mit verbundenen Augen, gezwungen, sich auszuziehen und auf Lastwagen verladen und an unbekannte Orte gebracht.
– Das physische und psychische Leiden des palästinensischen Volkes ist unbestreitbar.
“Südafrika ist nicht das einzige Land, das auf die völkermörderische Rhetorik Israels gegen die Palästinenser in Gaza aufmerksam macht. Fünfzehn UN-Sonderberichterstatter und 21 Mitglieder der UN-Arbeitsgruppen haben davor gewarnt, dass die Geschehnisse im Gazastreifen einen bevorstehenden Völkermord darstellen”, warnt eine weitere juristische Vertetung Südafrikas, Tembeka Ngcukaitobi.
“Die völkermörderische Absicht gegen die Palästinenser im Gazastreifen wird durch die Art und Weise deutlich, in der Israels militärische Angriffe durchgeführt werden. Es gibt auch ein klares Muster für die Zerstörung von Familienhäusern und ziviler Infrastruktur, die Verwüstung großer Teile der palästinensischen Bevölkerung.”Israels politische Führer, militärische Befehlshaber und Personen in offiziellen Positionen haben systematisch und ausdrücklich ihre völkermörderischen Absichten erklärt”, so der Südafrikaner Ngcukaitobi weiter.
Tembeka Ngcukaitobi verweist auf die Äußerungen des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu vom 28. Oktober 2023, der die Bodentruppen, die sich auf den Einmarsch in den Gazastreifen vorbereiten, aufforderte, “daran zu denken, was Amalek euch angetan hat”.”Dies bezieht sich auf den biblischen Befehl Gottes an Saul, als Vergeltung eine ganze Gruppe von Menschen zu vernichten”, so der Anwalt. “Die völkermörderische Aufforderung an Amalek war alles andere als harmlos. Sie wurde von Herrn Netanjahu in einem Brief an die israelischen Streitkräfte am 3. November 2023 wiederholt”, fügte er hinzu und wies darauf hin, dass die Beschwörung des Premierministers von israelischen Soldaten zur Rechtfertigung der Tötung von Zivilisten im Gazastreifen verwendet wird.
Ngcukaitobi zeigte dann ein in den sozialen Medien verbreitetes Video, in dem Soldaten gefilmt wurden, wie sie “Möge Gaza ausgelöscht werden” skandierten und sangen.
Blinne Ni Ghralaigh, eine irische Anwältin, erklärte vor dem IGH, dass “es dringend notwendig ist, vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, um die Palästinenser in Gaza vor dem irrerapablen Schaden zu bewahren, der durch Israels Verstoß gegen die Völkermordkonvention verursacht wird”.
“Der Generalsekretär der Vereinten Nationen und seine Beamten beschreiben die Situation in Gaza als ‘eine Krise der Menschlichkeit’, ‘eine Hölle auf Erden’, ‘ein Blutbad’, ‘eine Situation völliger Vertiefung und unvergleichlichen Schreckens, in der eine ganze Bevölkerung belagert und angegriffen wird und ihr der Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern massiv verwehrt wird'”, sagte sie.”Wie der Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten am vergangenen Freitag erklärte, ist der Gazastreifen zu einem Ort des Todes und der Verzweiflung geworden”, fügte Ni Ghralaigh hinzu.
Die Klage Südafrikas wird von mindestens 57 Ländern und Institutionen mitunterstützt: Darunter Palästina, Jordanien, Malaysia, Bolivien, die Türkei, Pakistan, Namibia, die Malediven, Brasilien, Kolumbien, Bangladesch, Nicaragua, Venezuela, sowie von der Arabischen Liga und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC).Sollte das Gericht feststellen, dass Israel einen Genozid begeht, was wahrscheinlich ist, wäre das eine historisch wichtige Feststellung. Das IGH kann jedoch nicht selbst einen Schutz der Palästinenser erzwingen. Sie kann lediglich den UN-Sicherheitsrat zwingen, sich mit dem Urteil zu beschäftigen. Dort blockieren die USA aber regelmäßig mit ihrem Veto-Recht Maßnahmen zum Schutz der Palästinenser und Verurteilung israelischer Verbrechen.
Mit einem solchen Urteil wäre das schwierig. Die symbolische, politische und historische Bedeutung des Verfahrens ist enorm.