Ich habe mir die Verteidigung Israels vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag angeschaut, damit ihr es nicht müsst.
Die relevantesten Punkte
– Israel stellt den Anspruch Südafrikas auf einen Disput in Frage, wirft Südafrika aber gleichzeitig Unterstützung der Hamas (eines Kriegsteilnehmers) vor.
– Israel beruft sich auf sein Recht der Verteidigung.
– “Aber Hamas” war das wiederkehrende Argument der Verteidigung.
Hintergrund
Der Internationale Gerichtshof (IGH) ist ein UN-Gericht, das Konflikte zwischen UN-Mitgliedern klären soll. Es ist nicht der Internationale Strafgerichtshof, den Israel übrigens nicht anerkennt. Südafrika begründet seine Klage am IGH damit, dass die südafrikanische Regierung mehrmals die israelische Regierung um eine Klärung des Konflikts in Gaza bat. Südafrika habe seine Vermittlung angeboten, sei aber ignoriert worden. Das Ausmaß des israelischen Kriegs gegen Gaza entspreche einem Genozid, so Südafrikas 85-seitige, detaillierte Klageschrift. Weshalb Südafrika sich einschalten müsste.
Aber Hamas
Im Rahmen einer Verhandlung vor dem IGH für einen amüsanten Moment zu sorgen, ist schon eine Seltenheit. Dem TikToker Hamza Saada gelang das. Er streamte die Verteidigung Israels live und führte eine Strichliste namens “Khamas Counter”. Ganze 137 mal wurde die Hamas in Israels Verteidigung erwähnt. Es war das Hauptargument.
Israel argumentierte, dass der Angriff der Hamas auf Armeeaußenposten und umliegende Dörfer im Süden Israels, sowie die Entführung von Hunderten von Gefangenen, am 7. Oktober der Auslöser für den Gazakrieg gewesen sei und dass Israel nach Völkerrecht das Recht hätte, sich zu “verteidigen”.
Tal Becker, ein Anwalt des israelischen Teams, erklärte, dass die Völkermordkonvention nach dem Massenmord an den Juden im Holocaust verfasst wurde und dass die Formulierung “nie wieder” eine der “höchsten moralischen Verpflichtungen” für Israel darstellen würde. Südafrikas Antrang auf eine einstweilige Verfügung gegen die israelische Invasion, so Becker, versuche Israel die Möglichkeit zu verwehren, seinen Verpflichtungen gegenüber den Opfern nachzukommen.
Als Malcolm Shaw an der Reihe war, versuchte er, die Äußerungen von Premierminister Benjamin Netanjahu, die auf “Amalek” anspielten – und die vom südafrikanischen Team am Donnerstag ausdrücklich zitiert wurden – zu relativieren, in dem er erklärte, sie seien aus dem Zusammenhang gerissen worden.
In der zitierten Äußerung hatte Netanjahu den israelischen Truppen, die sich auf den Einmarsch in den Gazastreifen am 28. Oktober vorbereiten, gesagt: “Denkt daran, was Amalek euch angetan hat”, womit er sich auf die biblische Aufforderung bezog, eine bestimmte Gruppe von Menschen auszurotten. Die Gleichsetzung von Amalek mit Palästinensern widerholte sich dann in diversen Äußerungen von Politikern und Armeeangehörigen Israels.
Shaw fügte hinzu, Netanjahu habe die Aussage mit den Worten ergänzt, dass die israelische Armee “die moralischste Armee sei … und alles tue, um die Tötung von Unschuldigen zu vermeiden”. Tatsächlich lassen sich diese Worte in Netanjahus Ansprache gar nicht finden. Einer von vielen Momenten, in denen die überraschend extreme Schwäche der israelischen Verteidigung deutlich wurde. Dieser Fehler mag wohl kaum daran liegen, dass Shaw “eine Seite verloren” hat, wie er mitten in seiner Verteidigung feststellte.
Überhaupt lag ein gewisses Unbehagen in der Luft, wenn die israelischen Verteidiger sprachen. Bei Tal Becker und Galit Raguan versagte kurzzeitig die Stimme. Vielleicht auch, weil Galit Raguan den jetzt schon legendären Satz “es wurde keine Krankenhäuser bombardiert” ausgesprochen hat. Dem widerspricht nämtlich die Weltgesundheitsorganisation WHO. Ihr zufolge habe Israel zwischen dem 7. Oktober 2022 und dem 11. Januar 2023 309 Attacken auf die medizinische Infrastruktur verübt. Bei Attacken auf medizinische Einrichtungen seien 612 Menschen getötet und 776 Menschen verletzt worden. 26 Krankenhäuser seien beschossen worden, sowie 45 Rettungswagen.
Aber Bosnien
Ein Aber nach dem Anderen. Es war ein einziges Gelabere. Den Höhepunkt der Absurdität lieferte wohl aber der Anwalt Christoph Staker für die israelische Verteidigung. Sein Aber ist eines, mit dem wohl niemand gerechnet hat. Staker versuchte, eine mögliche Anordnung eines Eingriffs durch das Gericht abzuschwächen, indem er ein vergangenes Urteil des Gerichts bezüglich Bosnien und Herzegowina anführte. “Die Vorwürfe in jenem Fall (Bosnien) ähneln denen in diesem Fall (Gaza)”, so Staker. Christopher Staker vertrat die Ansicht, dass das Gericht dem Antrag Südafrikas auf eine Pause der israelischen Operation nicht stattgeben sollte, da der IGH während des Völkermords in Bosnien kein Ende der militärischen Aktivitäten angeordnet habe.
1993 beantragte Bosnien vorläufige Maßnahmen zum Schutz vor serbischen Truppen. Das war lange nachdem ein UN-Waffenembargo gegen Jugoslawien wegen Kriegsverbrechen verhängt worden war. Die Maßnahmen wurden abgelehnt, und der Völkermord in Bosnien entwickelte sich zum schlimmsten Völkermord auf europäischem Boden seit dem Holocaust.100.000 Menschen wurden getötet. Ihre Leichenteile wurden in einer Vielzahl von Massengräbern über Hunderte von Kilometern über das Land verstreut. Bis heute konnten Tausende von ihnen nicht identifiziert werden. Die Massaker hätten durch Maßnahmen des Gerichts verhindert werden können. Das weiß man heute. Israels Verteidigung scheint Massaker aber nicht verhindern zu wollen.
Widersprüche
Israel ist es vor dem IGH nicht gelungen, glaubhaft zu machen, warum es sich nicht um einen Genozid handelt. Noch wichtiger aber: Israel hat keine guten Gründe vorgelegt, warum nicht eine sofortige humanitäre Waffenruhe angeordnet werden sollte, wie es von Südafrika vom Gericht verlangt wird. Mit dem Vorwurf, Südafrika habe sich zum Sprachrohr der Hamas gemacht, negiert Israel gleichzeitig sein Argument vor Gericht, es gäbe gar keinen Anlass für die Verhandlung, da es keinen Konflikt mit Südafrika gäbe. Da Israel aber von einem Konflikt mit der Hamas spricht und Südafrika eine Unterstützung der Hamas vorgeworfen wird, ergibt das bereits einen handfesten Grund für einen Disput.
Israel ging nicht auf den relevanten Vorwurf ein, dass Gaza ein von Israel besetztes Gebiet ist. Dabei hebt das Israels Argument, es handle sich um das Recht auf Verteidigung, faktisch auf. Denn das Recht auf Verteidigung greift eigentlich nur im Falle des Angriffs eines Staates auf einen anderen Staat. Im Falle eines bewaffneten Konflikts in einem besetzten Gebiet zwischen Besetzten und Besetzern wird diese Rechtsgrundlage nicht angewendet. Israel versuchte deshalb wohl, Gaza als ein von der Hamas kontrolliertes Gebiet darzustellen, ohne Israels vollständige Blockade des vermeintlichen Hoheitsgebiets Gazas anzuerkennen. Laut UN gilt Gaza nämlich weiterhin als besetztes Gebiet.
Aussicht
Das Gericht wird die Argumente beider Seiten auswerten. Die Hauptsache, in der es darum geht, ob es sich um einen Genozid handelt, kann lange dauern. Eine Entscheidung über eine mögliche einstweilige Anordnung wird jedoch früh erwartet. Bekommt Südafrika recht, könnte das IGH eine humanitäre Waffenruhe anordnen. Dann müsste der UN-Sicherheitsrat sich damit beschäftigen. Das IGH verfügt über keine eigenen Instumente, sein Urteil zu erzwingen. Es kann lediglich die UN zur Handlung auffordern. Die USA blockieren jedoch jedweden Versuch, Israels Krieg gegen Gaza zu beenden mit ihrem Veto-Recht im Sicherheitsrat der UN. Ein Urteil des IGH könnte den USA eine solche Entscheidung jedoch erheblich erschweren. Und vielleicht unmöglich machen.