Lasst uns über afghanische Mädchen sprechen. Ja, Lina H. ist nicht afghanisch. Da habe ich ein falsches Gerücht aus der afghanischen Community übernommen. Mein Fehler, für den ich um Entschuldigung bitte. Wer aber bittet die afghanischen Mädchen um Entschuldigung, die gerade ins Ungewisse geschickt werden?
Der Iran hat in den letzten drei Wochen über 500.000 Menschen nach Afghanistan ausgewiesen. Die UN berichtet von 1,1 Millionen Abgeschobenen aus dem Iran und Pakistan im laufende Jahr 2025. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist das einer der größten Rückführungswellen der letzten Jahrzehnte. Unter 50 Grad harren die Menschen an Grenzübergängen wie Islam Qala und Dogharoun aus. Es werden zahlreiche Todesfälle durch Hitze und Dehydrierung gemeldet. Auch Fälle von Misshandlungen durch iranische Grenzbeamte werden geschildert. Laut der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council berichten Betroffene von Schlägen, Einschüchterung und der willkürlichen Zerstörung ihrer Ausweisdokumente.
UNICEF und der Rote Halbmond warnen: Es braucht dringend Hilfe. “Die humanitäre Lage ist katastrophal”, sagt Fariba Gharwal von UNICEF Afghanistan gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. “Es gibt keinen Zugang zu Wasser, keine sanitären Einrichtungen, kaum medizinische Versorgung. Und am stärksten betroffen sind Frauen und Kinder.”
„Sie kamen mitten in der Nacht. Ich habe sie angefleht, mir nur zwei Tage zu geben. Aber sie haben nicht auf mich gehört. Sie haben uns wie Müll rausgeworfen“, erzählt Sahar, eine 32-jährige Frau, die mit ihren drei Kindern aus der Stadt Mashhad abgeschoben wurde. Sie blickt in eine ungewisse Zukunft unter Taliban-Herrschaft. Ihre jüngste Tochter ist zwei Jahre alt und fiebert seit Tagen an der Grenze. Medizin gibt es keine.
Unter den im Juni deportierten Afghanen sind laut UNHCR mehr als 5.000 unbegleitete oder von ihren Eltern getrennte Kinder. Darunter viele Mädchen.
Während Afghaninnen in Nachbarländern wie Iran oder Pakistan zur Schule gehen durften, existiert in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban ein weltweit einzigartiges Bildungsverbot für Mädchen. Sie dürfen lediglich die Grundschule besuchen. Danach ist Schluss. Das verstößt nicht nur gegen das Menschenrecht auf Bildung, sondern auch gegen muslimische Grundsätze der Bildungspflicht für beide Geschlechter. “Der Prophet selbst hat zur Bildung für alle aufgerufen, das wissen die Taliban genau”, sagt die afghanische Lehrerin Mahbuba Siraj in einem Interview mit Al Jazeera. “Aber sie benutzen den Islam als Vorwand für ihre Machtpolitik.”
Zohra ist 12 Jahre alt, war im Iran Klassenbeste. Sie will Ärztin werden. „Ich habe Angst. Warum hassen sie uns hier und da? Ich habe Angst, jetzt etwas zu sagen, weil ich nicht weiß, was sie dann tun. Ich möchte doch nur in Ruhe leben und lernen“, erzählt sie uns in einem Videocall, den ein Verwandter aus Hamburg organisiert hat. Er versuchte zuvor, Zohra und ihre Eltern nach Deutschland zu holen. „Sie sind gebildet und wollen arbeiten. Aber ich stoße auf taube Ohren“, so Ali, der um seine Nichte fürchtet.
Die Merz-Regierung hat den Familiennachzug für Afghaninnen und Afghanen de facto ausgesetzt. Der sogenannte Spurwechsel, der Geflüchteten mit Arbeitsangeboten den Verbleib ermöglichen soll, schließt aktuell viele Afghaninnen aus – insbesondere, wenn sie sich noch im Iran oder in Pakistan aufhalten und gar nicht erst einreisen dürfen. Laut Pro Asyl ist das ein politisches Problem: „Es gibt genug aufnahmebereite Familien in Deutschland, aber die Bundesregierung blockiert“, sagt Tareq Alaows, Flüchtlingsreferent von Pro Asyl.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass in Afghanistan derzeit rund 6,5 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Fast die Hälfte davon sind Kinder. Laut einem aktuellen Bericht von Save the Children sind Mädchen besonderen Risiken ausgesetzt: Sie können weder zur Schule gehen noch sich frei bewegen. Viele werden verheiratet, sobald sie älter als 12 sind. Die Zahl der Kinderehen ist nach Angaben von UNICEF seit der Machtübernahme der Taliban 2021 um mehr als 40 Prozent gestiegen.
Fatima, eine 14-Jährige aus Herat, die mit ihrer Familie aus dem Iran abgeschoben wurde, erzählt der Nachrichtenagentur AP: „Sie sagen, wir sollen hier leben. Aber hier sind wir tot, nur ohne Grabstein.“
Der Exodus aus dem Iran und Pakistan geht derweil weiter. Laut der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) könnten bis Ende des Jahres mehr als zwei Millionen Afghaninnen und Afghanen abgeschoben werden. Der Druck wächst. Die Lage an den Grenzen bleibt lebensgefährlich. Und die Mädchen – sie stehen vor einem Leben in Unsichtbarkeit.