Der Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ hat in Deutschland ein juristisches und politisches Minenfeld erschaffen, das mitunter an kafkaeske Zustände erinnert. Behörden sprechen von Hamas-Symbolik, Gerichte dagegen betonen Kontext, Geschichte und Mehrdeutigkeit – und setzen so einen dringend nötigen Nuancenstift in der Debatte.
Die Wurzeln der Parole reichen ins 20. Jahrhundert zurück: Bereits in den 1960er-Jahren nutzte die PLO den Slogan im Sinne eines „one democratic secular state“ auf dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer. Gleichzeitig taucht er in abgewandelter Form seit den 1930er-Jahren im zionistischen Diskurs auf – etwa bei Jabotinsky und der späteren Likud-Partei . Die Botschaft war dabei nie monolithisch: Sie reichte von Aufrufen zur Gewalt über visionäre Ein-Staat-Lösungen bis zu Forderungen nach Gleichberechtigung – je nach Einsatzort und Sprecher.
Gerade dieser Wandel der Bedeutung macht den Slogan brisant. In vielen Ländern, auch in Israel oder Großbritannien, gilt er als politische Parole, „subject to various interpretations“, also mehrdeutig und deshalb durch eigenes Recht geschützt.
In Deutschland verhängten Sicherheitsbehörden nach dem Hamas-Verbot im November 2023 bundesweit Auslegungen, die allesamt pauschal waren – auch unter Verweis auf § 86a StGB („Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“). Doch Gerichte setzen dem klare Grenzen: Der Hessische VGH erklärte schon im März 2024, dass der Slogan nicht per se einen Gewaltaufruf darstelle, weil er nicht konkret ausweise, wie dieses Ziel erreicht werden solle – sei es friedlich, völkerrechtlich oder bewaffnet. Ein grundsätzliches Verbot sei nicht gerechtfertigt; eine differenzierte Einzelfallprüfung hingegen schon.
Auch der Bayerische VGH stellte fest, dass ein pauschales Verbot „voraussichtlich rechtswidrig“ sei. Entscheidend sei, ob ein konkreter Bezug zur Hamas vorliege – das alleinige Rufen reiche nicht aus.
Ein besonderes Schlaglicht war der Prozess im Amtsgericht Tiergarten im August 2024: Ava Moayeri rief die Parole wenige Tage nach dem 7.-Oktober-Angriff von Hamas. Richterin Balzer verurteilte sie zu einer Geldstrafe von 600 Euro, weil sie in diesem Kontext das Existenzrecht Israels negiert habe (The Guardian). Der Verteidiger Alexander Gorski kritisierte, das Gericht ignoriere den historischen und globalen Kontext des Slogans und folge einem „state oppression“ der Meinungsfreiheit (The Left Berlin).
Ein weiteres Urteil aus Duisburg im Mai 2025 brachte klarere Verhältnisse: Das dortige Regionalgericht sprach Aktivisten wegen der Parole frei. Es betonte, dass ohne ausdrücklichen Aufruf zur Gewalt keine strafbare Billigung von Straftaten infrage komme (wsws.org).
Der decisive Punkt für Jurist*innen: Artikel 5 GG schützt Ideen, nicht nur angenehm formulierbare, solange keine direkte Gewalt gefordert ist. Auch § 86a StGB verlangt einen eindeutigen „symbolischen Bezug“ zur Hamas – und den haben viele Urteile nicht gesehen. Der Bundesgerichtshof hat eine Revision zum Fall Berlin angenommen, was zeigt, dass hier für die nächste Instanz noch Korrekturen möglich sind .
Es entsteht ein Flickenteppich urteilter Realität: Während in NRW Demonstrationen mit dem Slogan verboten wurden, erging anderswo Freispruch. Behörden agieren meist präventiv aufgrund politischem Druck – Gerichte handeln danach, juristisch begründet. So stehen wir vor der Frage: Sollen Behörden allein aufgrund vager Symbolik das Deutungsmonopol bekommen – ohne Kontext und Differenzierung? Oder sollen unabhängige Gerichte nachvollziehbar aufklären, wann Meinungsfreiheit endet und Straftat beginnt?
Ein freiheitlicher Rechtsstaat wird durch solche Urteile erst definiert – nicht durch reflexartig verhängte Verbote. Historischer Kontext, semantische Vielfalt und die stringente Prüfung jedes Einzelfalls sind kein Luxus, sondern Demokratie notwendig. Dieser Slogan steht exemplarisch dafür, wie robust unsere Institutionen sein müssen, um Grundrechte gegen politisches Schnellschussdenken zu verteidigen. Deshalb ist die aktuelle Debatte nicht nur eine juristische Spitzfindigkeit, sondern ein grundlegender Test für die Substanz unserer Demokratie.