Ich höre die Stimme meines Profs: „Haste is your enemy“, Eile ist dein Feind. 12 Jahre Journalismus später müsste ich das wissen. Über 10.000 Beiträge habe ich veröffentlicht. Das so auszuschreiben, macht mich fast schon unruhig. Zeit rennt. Marathon. Nicht Sprint. Sie ist immer erreichbar. Verschnaufpausen und konditioniertes Laufen sind erlaubt. Die Zeit rennt dir eben nicht davon.
Das zeigt uns bedrückenderweise der Genozid. Er schreitet seit nunmehr 21 Monaten voran. Er wartet nicht auf uns. In dieser Zeit habe ich unzählige Fake News deutscher Medien thematisiert und korrigiert. Ich bin froh, nie schlampig gearbeitet zu haben, als es um einen Genozid ging. Aber.
Ich habe zwei mal in meiner Karriere aus Eigenverschulden falsche Informationen weiterverbreitet. Es hatte beide Male mit Eile zu tun. Das letzte mal ist gerade erst passiert. Die Leserinnen und Leser werden sich an die 10.000 Beiträge erinnern, nicht an zwei Fehler. Die Crux ist nur, ich bin es, der sich an die zwei Fehler erinnern wird.
Die 11-jährige Lina Heider aus Bonn ist die jüngste Abiturientin der Geschichte Deutschlands. Auch so schon eine richtig gute, schöne Nachricht. In der afghanischen Community ging das in den ersten Tagen nach Bekanntwerden viral wie nirgends sonst. Denn: Sie soll afghanischer Herkunft sein. Ganz konkret sogar Angehörige der afghanischen Minderheit der Hazara. Hazara wurden in der Vergangenheit und Gegenwart immer wieder verfolgt. Jüngst zum Beispiel von Daesh („IS“). Umso stolzer und glücklicher waren viele Afghanen, als sie verkündeten, es wäre eine geflüchtete Afghanin, die die jüngste Abiturientin wurde. Ich habe diese Beiträge gelesen. Unter anderem bei einem afghanischen Journalist, den nicht nur ich ich für überaus kompetent halte.
Und an diesem Punkt beginnt das Problem. Wie hätte man hierbei verfahren sollen? Klug wäre: Den Journalisten interessiert um mehr Informationen bitten. Das tat ich später. Und musste feststellen: Er hat auch nur gelesen, was ich gelesen habe. Aber meine Eile ließ mich diesen Schritt überspringen. Im Vollsprint überging ich auch andere entscheidende Schritte der Verifizierung. Ich hätte die Familie selbst – die ich relativ schnell recherchieren konnte – kontaktieren können. Ich hätte die Schule um einen Kommentar bitten können. Aber all das hätte mindestens einen Tag in Anspruch genommen. Und das erlaubt dir Eile nicht. Während du ein Baby im Arm hältst und versuchst, halbwegs deiner Arbeit nachzugehen. Als Selbstständiger gibt es keine echte Elternzeit. Aber das ist keine Rechtfertigung. Ich sah die Chance, über das Bildungsverbot für Mädchen unter den Taliban in Afghanistan zu sprechen. Was für eine starke Nachricht, um dahin überzuleiten, oder?
Was macht man nun, wenn das nicht gestimmt hat? Es korrigieren. Das tat ich. Wichtiger aber: Die Familie um Entschuldigung bitten. Auch das tat ich. Denn so banal und unproblematisch dieses Gerücht über ihre Herkunft auch ist: Selbst wenn es nur Kopfschmerzen verursacht, ist es schon falsch.
Mehr als Kopfschmerzen verursachte aber der zweite Fall, der zweite Fehler. Er liegt etwas länger zurück. Im Dezember 2023. Ich war auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt mit meiner Familie, als ich einen Anruf aus Jordanien bekam: Ein palästinensischer Student sei in Hamburg getötet worden, nachdem es einen Streit über Gaza gegeben hätte. Ich telefoniere also rum. Bis ins Außenministerium Jordaniens dringe ich vor. Und eine ranghohe diplomatische Person bestätigt, dass es diesen Fall geben soll. Bis hierhin eine gute Quelle, möchte man meinen. Wären da nicht die anderen zwei Quellen, die hätten aufhorchen lassen müssen. Eine zweite Quelle in der jordanischen Botschaft war nämlich auffällig zurückhaltend. Man kenne den Fall, wolle sich aber nicht weiter äußern, hieß es. Ungewöhnlich. Auch die Polizei Hamburg, die ich angerufen habe, war nicht ganz deutlich. Der Fall liege – wie bei Mordfällen üblich – bei der Staatsanwaltschaft. Mord also bestätigt, dachte ich. Hätte ich das klüger eingeordnet. Denn der Beamte an der Leitung meinte es offenbar anders: Wenn es einen Fall gäbe, liege der bei der Staatsanwaltschaft und nicht bei ihm.
Es gab den Mordfall nicht. Der Student war tot. Aber nicht aufgrund von Mord. Das wusste ich nicht, als ich mit der Familie des Toten telefonierte. Seine Angehörigen waren außer sich. Sie vermuteten eine Verschleierung. Ein Verwandter erzählt, er habe die Leiche gesehen, der junge Mann hätte zwei Kopfschuss erlitten. Ich frage mehrmals nach. Denn natürlich denke ich auch darüber nach, ob es einen Suizid gegeben haben könnte. Zwei Schüsse würden das ausschließen. Ich frage, ob die zwei Löcher im Kopf nicht etwa Ein- und Austrittsstelle sein könnten. Nein, heißt es. Die Familie drängt. Sie will Antworten und sie will den Körper ihres Kindes nach Jordanien überführt haben. Mehrere arabische Medien berichten bereits. Auch seriöse.
Und ich denke, der Familie helfen zu können, indem ich das vage Gerücht weiterverbreite. Geholfen war niemandem. Denn es war kein Mordfall. Es war Suizid. Ein Ereignis, über das man als Journalist weiß: Lieber nicht berichten und wenn es – warum auch immer – dringend sein muss, dann mit äußerster Sensibilität. Um es anhand dieses Falls verständlich zu machen: Die Sensibilität braucht es, um einer trauernden Familie, die nicht wahrhaben möchte, was passiert ist, mit einer schwierigen Nachricht durch eine schwierige Zeit zu helfen. Ich habe den Beitrag damals rasch gelöscht und korrigiert. Und tagelang mit der Familie gesprochen. Versucht, zu helfen; versucht, das Unverständliche verständlicher zu machen. Versucht, zumindest dabei zu assistieren, dass der Leichnam schnell in Jordanien bei ihnen ankommt.
Eile ist kein guter Freund. Eine Studie von Tuk et al. (2011) zeigte, dass Menschen unter Harndrang impulsive Entscheidungen besser kontrollieren und dadurch rationalere Entscheidungen treffen können. Das gilt offenkundig im Journalismus nicht. Denn hier kommt es nicht auf impulsive Intelligenz und Instinkte an, sondern auf Recherche. Instinkte können zu guter Recherche führen. Wie in einigen von den 10.000 Beiträgen. Es ist und bleibt jedoch die Recherche selbst, auf die es ankommt.
In beiden Fällen hätte es geholfen, durchzuatmen und die Lücken in den Geschichten genauer auszurecherchieren. Falsche Nachrichten sind nicht immer geplante Lügen. Sie stolpern sich durch unschuldige Beweggründe zusammen. Ob man die Bildung afghanischer Mädchen feiern will, oder geschockt vom Tod seines Kindes ist. Die Verantwortung von Presse ist es, sich nicht mitreißen zu lassen. Menschliche Distanz ist schwierig. Erst recht, wenn man seine Menschlichkeit nicht unterdrücken möchte. Ich glaube fest, dass es diese Distanz nicht braucht. Auch Journalistinnen und Journalisten dürfen tief berührt, betroffen und bewegt sein. Umso größer ist daraufhin ihre Verantwortung.
Der Genozid in Gaza zeigt uns: Dass es so viele Fake News in deutschen Medien gibt, liegt an der Entmenschlichung der Palästinenser. Die israelische Propaganda hat erfolgreich geschafft, eine rassistisch bedingte Distanz der deutschen Presse zu Palästinensern zu erzwingen. Stattdessen gibt es eine ergebene Nähe zu Israelis und der Israel-Lobby. Und dort geht Recherche verloren. Weil sie gar nicht mehr existiert. Es wird nicht einfach nur ein Fehler begangen, man ist selbst der Fehler.
Presse muss selbstkritisch sein. Um schnell der Hauptaufgabe nachgehen zu können: Kritisch gegenüber den Mächtigen sein. Fehler ist Fehler. Es wird immer ein Unterschied bleiben, ob man Fehler im Dienste der Mächtigen oder Fehler im Dienste der Schwächeren begeht. Das ist die moralische Genugtuung. Journalistisch gilt dennoch immer: Man sollte sagen,was ist. Sagen, was sein könnte, ist Philosophie.