6 Wochen Leben
Das waren die anstrengendsten sechs Wochen. Und das klingt so absurd, denn im Vergleich dazu, welche Hölle über die palästinensischen Zivilisten in Gaza losgelassen wurde, ist der Stress im sicheren Berlin bescheiden. Doch die Wahrheit ist: Meine geliebte Heimat ist gerade kaum auszuhalten. Ich habe Deutschland für einige Tage verlassen und mache eine kurze Pause. Die aktuelle Flut an Rassismus, Menschenverachtung, Verharmlosung von Tötung, Ignoranz und gehäufte Morddrohungen sind vieles, aber nicht normal. Aus der Community gibt es viel Solidarität. Aber der Mainstream schweigt und versagt. Ich möchte kurz Gedanken mit euch teilen.
Es ist kein Geheimnis: Alle Angehörigen einer Minderheit in Deutschland denken aktuell über Auswanderung nach. Es ist meistens übertrieben von „allen“ zu sprechen, doch ich betone: Alle. Ich kenne niemanden, der nicht Plan B in Betracht zieht. Das schließt alle Muslime und Juden in meinem Bekanntenkreis ein. Selbst „unerkennbare“ mit „deutschem“ Namen. Alle fühlen sich entfremdet, verraten, offen angegriffen. Das Schlimme ist: Deutschland ist das gar nicht klar. Wir müssen Einwanderungsland bleiben, um zu überstehen. Unser Land droht sich aber mit Vollgas wirtschaftlich, kulturell und politisch gegen die Wand zu fahren und die Regierung glorifiziert ihre Inkompetenz dazu noch. Das ist schmerzhaft mitanzusehen.
Ich werde nicht vom Auswandern sprechen, weil ich meine Heimat niemals dieser Ignoranz vor Rassismus überlassen möchte. Das kann ich überzeugt sagen. Bis jetzt. Systematisch zu einem „Islamisten“, „Terroristen“, „Propagandisten“ und ewigen Ausländer degradiert zu werden, ist schlimm genug. Es könnte schlimmer sein; und genau das gilt es zu verhindern. Ich glaube nicht, dass die aggressive Dummheit dieser Tage noch sehr lange anhalten wird, aber mit ihren Folgen werden wir noch lange zu kämpfen haben. Nach und nach versuchen einige nun zu klingen, als wären sie in den letzten sechs Wochen nicht Gegner von Menschenrechten gewesen. Betroffene können und werden das nicht einfach vergessen.
Das Problem ist zusammengefasst: Wir müssen beweisen, dass Palästinenser Menschen sind, die es verdient haben, als Menschen angesehen und betrauert zu werden. Im rassistischen Sinne wird das mit auf deutsche Minderheiten, speziell Muslime, übertragen. Das ist ein unterirdisches Niveau.
Medial sind wir im internationalen Vergleich eine komplette Blamage. Politisch haben wir komplett versagt. Wenn unsere Wahl zwischen Scholz, Baerbock, Lindner, Habeck, Faeser, Merz, Özdemir, Strack-Zimmermann und AfD liegt, wie sollen Deutschland und Europa überhaupt von selbstständiger, stabiler Zukunftsfähigkeit träumen können? Uns wird hiernach niemand mehr ernst nehmen.
Unsere Mission als Menschen – da beginnt das Mindeste – dreht sich derzeit also zu großen Teilen darum, dass Menschen ihre Heimat nicht verlieren. Palästinenser in Gaza und im Westjordanland; Minderheiten in Deutschland.
Während ich in gerade diese Worte schreibe, weit weg von zuhause, sprechen mich Berliner mit palästinensischen Wurzeln an. Sie sind aus dem selben Grund wie ich gerade weg; verletzt, gestresst. Und dankbar. Wir glauben an das Schicksal. Daran, dass in allem
Botschaften liegen. Egal, wohin wir gehen: Wer wir sind, bleibt unser Schicksal. Und mit dieser Überzeugung wird es weitergehen.
Es führt kein Weg daran vorbei. Wir müssen weiter mutig, laut, klug, mäßigend, kritisch und gerecht bleiben. Und wir können uns geehrt fühlen, wenn es unser Schicksal ist, zu jenen Menschen zu gehören. Wenn wir eines aus diesen Tagen gelernt haben, dann dass wir unüberhörbar sind. Alles wurde gesagt. Wer nicht zugehört hat, hat sich dafür entschieden.
Wir verteidigen Freiheit gefühlt völlig allein. Aber missversteht das nicht. Es gibt einen riesigen Teil unserer Gesellschaft, der sehr wohl Recht von Unrecht unterscheiden kann. Wir haben für „Nie wieder“ ein großartiges Grundgesetz zur Seite. Erstreiten wir uns das Recht daraus! Und erstreiten wir unermüdlich Rechte für Palästinenser! Wer dagegen diskutieren will, soll es mal versuchen.
Wir sind Deutsche. Wenn wir wollen. Egal, wem das nicht passt. Wir können gleichzeitig auch Anderes sein. Wenn wir wollen. Egal, wem das nicht passt. Wir haben jedes Recht dazu, palästinensischen Zivilisten und den Verbrechen gegen sie die Aufmerksamkeit zu geben, die dringend von Nöten ist. Egal, wem das nicht passt.
Bis all das auch „Staatsräson“ ist, die sich ohne Zweifel aus „Nie wieder“ ergibt, muss diese Arbeit weitergehen. Völlig egal, wie viel Hass man dafür auf sich zieht. „Nie wieder“ gilt für alle. Wir machen das für uns alle, für die Generationen nach uns und für jene, die keine andere Option als Deutschland haben (müssen). Das ist ein richtiger Weg und es lohnt sich menschlich, ihn zu gehen.
Ich habe versucht, mich kurz zu halten, ehrlich. Das ist nur als Erklärung dafür gedacht, warum es diese Tage weniger Inhalte gibt. Ich werde nicht völlig untätig sein können. Nur reduziert. Aber es wird weitergehen. Und ich will nicht jetzt schon zu viel ankündigen, aber es wird weitaus stärker weitergehen.
Mein besonderer Dank richtet sich an euch. Ihr seid es, die in Deutschland Stimmen der Vernunft hörbar machen. Ihr wart das Echo der Stimmen Gazas. Ich spreche mit Stolz über euch. Eure Gefühle sollen nicht ignoriert bleiben. Auch wenn wir natürlich aufgrund der extremen humanitären Katastrophe den Fokus stark auf Gaza setzen müssen. Ich gehe tief Luft holen.